Archiv der Kategorie: Politik Gesellschaft

Angeblicher Kulturfunktionär der AFD bezichtigt den ‚Stern‘ der Geschichtsvergessenheit

Sehr geehrter Herr Dr. Thomas Hartung,

ausgerechnet die AFD bezichtigt ein seriöses Presseorgan der Geschichtsvergessenheit. Ihrem akademischen Werdegang entnehme ich, dass Sie zum logischen Denken fähig sind. Umso mehr bedaure ich, dass Sie mit der AFD als kulturpolitischer Sprecher diese Schlüsse gezogen haben. Wie wäre es, wenn Sie einmal vor Ihrer eigenen Tür kehren würden? Ich bin parteiunabhängig und kritisiere bei Facebook mit über 96.000 Follower viele Widersprüche, die sich aus der bundesrepublikanischen Politik ergeben haben. Insbesondere, dass mittlerweile das Wunschdenken zum Prinzip der Gesetzgebung geworden ist. Auch das ist nur möglich wegen so mancher populistischer Methoden der Parteien. Die AFD aber ist mit ihrer Ansprache der Wähler darin der große Meister. Sie sprechen die niedrigsten Instinkte der Menschen an, nutzen übrigens auch meine kritischen Thesen, um unsere Demokratie zu diffamieren. Als Demokrat würde ich das sogar noch akzeptieren, wenn sie nicht in den eigenen Reihen ein faschistisches Gedankengut propagierten, welches unerträglich ist.

Damit Sie sehen, dass ich sie ernst nehme, schildere ich Ihnen einen Vorgang im zweiten Weltkrieg, den ich erleben musste und überlebte, einen Krieg, den die Hitler-Faschisten angezettelt hatten mit ersten verbrecherischen Bombenangriffen auf die Bevölkerung Englands. Dass Großbritannien entsprechend reagierte, musste ich erleben, weil der 29. Juni 1943 ein Datum ist, welches mit einem schrecklichen Bombenangriff auf die Kölner Innenstadt endete, was ich nie vergessen werde. Von 60 Menschen entgingen wir mit meiner Familie zu 5 Personen dem Tod durch Phosphor- bzw. Napalm-Dämpfe. Mein Vater war so klug, dass er das nicht England angelastet hat, sondern dem faschistischem Hitler-Regime, welches sich so extrem an der Menschheit versündigte, durchaus im Verein mit dem stalinistischen Russland. Ich begreife nicht, dass es heute in Deutschland noch Menschen gibt, die das leugnen und sogar zu ihrer politischen Überzeugung machen.

Die AFD fördert diese Geschichtsvergessenen, ja, sie nutzt sie sogar aus, um Wähler zu gewinnen. Leider werden alle die Parteimitglieder auf die Seite geschoben, die vor dieser Ideologie warnen. Ich erinnere nur an den enormen Einfluss, den der offensichtliche Faschist Höcker in der AFD gewonnen hat.

Sie sind ein Mensch der Kultur, wenn Sie dann die deutsche Presse als geschichtsvergessen deklarieren, sollten Sie sich schämen.

Bitte löschen Sie mich aus Ihrem Mail-Verzeichnis, ich erwarte auch keine Antwort. Damit wir uns recht verstehen, Gott sei Dank besitzen nicht alle Wähler der AFD dieses zum Extremismus führende Gedankengut, es sind leider unbedarfte Bürger, die sich genauso über bestimmte nicht zum Ziel führende Klima rettenden Maßnahmen der Politik ärgern wie ich. Der Vernunft eine Chance, das ist meine Antwort.

Jean Pütz

Dr. Rainer Balzer MdL: Stern liefert geschichtsvergessene Manipulation
Der kulturpolitische AfD-Fraktionssprecher Dr. Rainer Balzer MdL hat dem Magazin Stern geschichtsvergessene Manipulation vorgeworfen. „Offenbar hat das Blatt sein Kujau-Trauma immer noch nicht verarbeitet und sucht weiter nach Nazis, anders ist allein der Titel mit Alice Weidel nicht zu erklären. Den Hamburger Tintenstrolchen ins Stammbuch: Gebrochene Schriften wie Schwabacher oder Fraktur spielten zwischen dem ausgehenden 15. und dem 20. Jahrhundert eine herausragende Rolle. Sie waren schlicht die meist verwendeten Druckschriften: Das ‚Kommunistische Manifest‘ wurde ebenso in Fraktur gedruckt wie die Bibel. Hitler allerdings empfand gebrochene Schriften als zu romantisch, zu rückwärtsgewandt, verbot sie am 3. Januar 1941 mit Max Amann, dem Präsidenten der Reichsschrifttumskammer, und beschloss, die Antiqua als ‚Normal-Schrift‘ im Reich durchzusetzen. Von der Verwendung einer gebrochenen Schrift also auf eine politische Affinität zu schließen zeugt einzig und allein von fehlender Bildung.“

Hinzu kommt die plumpe Manipulation, das Interview unserer Ex-Landesvorsitzenden durch einen Essay des skandalumwitterten jüdischen Publizisten Michel Friedman zu kontern, der wegen des Aufstiegs unserer Partei das Land verlassen will, moniert Balzer. „Weder das Interview noch unsere Programme zeigen in irgendeiner Weise ‚Hass‘. Im Gegenteil: wir sind inzwischen die einzigen Realisten in einem Sumpf aus linken Ideologen, die gegen die Bürger regieren. Wenn ein Jude wegen der AfD das Land verlassen will, ist das ein nicht hinnehmbarer Skandal, so der Duktus. Da erinnere ich gern an Karl Lagerfelds Worte: ‚Wir können nicht Millionen Juden töten und Millionen ihrer schlimmsten Feinde ins Land holen‘. Wenn Regierungskritik inzwischen ‚Hass‘ ist, zeugt das schlicht von der Angst der selbsternannten Demokraten, ihre diktatorischen Umtriebe entlarvt zu sehen. Der Stern bedient sich exakt derselben perfiden Methodik, mit der nationalsozialistische Hetzblätter in den 30er Jahren jüdische Mitbürger und missliebige Politiker vernichtet haben. Das ist ein Armutszeugnis und ein neuer Tiefpunkt der Medienkultur.“

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Thomas Hartung

Pressesprecher

Leiter der Pressestelle der AfD-Fraktion im

Landtag von Baden-Württemberg

Master gesucht, Meister noch mehr

(FAZ) – Viele Betriebe suchen händeringend Bewerber für ihre Ausbildungsplätze – und würden sich vor allem über mehr Abiturienten freuen. Aber nur wenige Gymnasiasten bekommen in der Schule ein klares Bild vermittelt, dass ihnen auch über den Weg der beruflichen Aus- und Fortbildung, also ohne Studium, chancenreiche Karrieren offenstehen. Diese kritische Diagnose stellt die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) und stützt sich auf eine neue große Erhebung unter 20.000 Absolventen der Höheren Berufsbildung. Das sind Menschen, die irgendwann nach der üblichen Berufsausbildung eine Aufstiegsfortbildung gemacht haben und nun zum Beispiel als geprüfte Meister, Techniker oder Bilanzbuchhalter arbeiten.

„Schon in der Berufsorientierung müssen Schülerinnen und Schüler informiert werden, dass sie über eine duale Ausbildung und eine entsprechende Weiterbildung praxisnah eine ebenso erfolgreiche Erwerbsbiografie erfahren können wie Akademiker“, fasst Achim Dercks, stellvertretender DIHK-Hauptgeschäftsführer, die Analyse zusammen. Bisher fehle eine flächendeckende Berufsorientierung für Gymnasiasten – und erst recht eine, die nicht nur in Richtung Studium laufe. Der Erhebung zufolge haben 58 Prozent der Absolventen einer Höheren Berufsbildung damit ihr Gehalt und/oder ihre berufliche Stellung binnen fünf Jahren spürbar verbessert. Gut ein Fünftel schaffte Sprünge von mehr als 750 Euro im Monat.

Nähere Vergleichsdaten zu Einkommen von Hochschulabsolventen einerseits und Absolventen der Höheren Berufsbildung andererseits liefert diese Erhebung nicht. Auskunft gibt aber eine Studie des Tübinger Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) von 2019. Akademiker erzielten demnach bis zu ihrem 60. Lebensjahr im Mittel ein Gesamteinkommen von 1,45 Millionen Euro – und damit auf dieser langen Strecke gut 40.000 Euro mehr als geprüfte Meister oder Techniker. Allerdings erarbeiteten sich die Akademiker den Einkommensvorsprung erst spät im Berufsleben: Bis zum 35. Lebensjahr hatten es Weiterbildungsabsolventen schon zu 355.000 Euro gebracht, Akademiker nur zu 260.000 Euro – etwa so viel, wie auch ausgelernte Azubis ohne Weiterbildung bis zu diesem Alter erreicht hatten.

„In der Phase der Familiengründung stehen Weiterbildungsabsolventen also besser da“, folgert Dercks. Tatsächlich gehen der DIHK-Erhebung zufolge die meisten Teilnehmer ihre Aufstiegsfortbildung zwischen Mitte 20 und Mitte 30 an. Doch auch für Betriebe bringe dieser Qualifizierungspfad viele Vorteile, urteilt er: „Sie können aus der eigenen Belegschaft auf Topniveau weitergebildete Fach- und Führungskräfte entwickeln, die mehr Verantwortung übernehmen können und wollen.“ Die Höhere Berufsbildung sei „eine Art Geheimtipp“ für karrierebewusste Mitarbeiter wie auch für unternehmerische Strategien gegen Fachkräftemangel.

Insgesamt verfügen etwa 2,5 Millionen Erwerbstätige in Deutschland über einen höheren Berufsabschluss. Allein von den Industrie- und Handelskammern würden jährlich 60.000 Prüfungen abgenommen, so die DIHK. Aber es könnten „gerne noch mal mehr werden“. Der Arbeitsmarkt für diese Absolventen sei leer gefegt: Ihre Arbeitslosenquote beträgt 1,2 Prozent, ist damit noch niedriger als jene von Akademikern, die um 2 Prozent pendelt.

Mehr Berufsabsolventen für den Klimaschutz

Dass mehr höher qualifizierte Berufsabsolventen gebraucht würden, begründet Dercks zudem mit dem Klimaschutzziel: Es reiche nicht aus, dafür mehr Menschen auszubilden, die Wärmepumpen, Windräder oder Solaranlagen montieren, solange es nicht auch im Vorfeld gut funktioniere: „Entlang der Wertschöpfungskette – etwa von Entwicklung, Beschaffung und Bau bis hin zur Errichtung einer Windkraftanlage – sind die Aus- und Fortbildungsabschlüsse der Beruflichen Bildung über ihre gesamte Bandbreite gefragt.“

Der Weg zum höheren Berufsabschluss ist im Alltag aber fordernd: Meist bereiten sich Kandidaten in Abendkursen neben dem Hauptberuf auf die Prüfung vor. Jenseits der Orientierung für Einsteiger sollte sich nach Ansicht der Kammern daher auch die staatliche Förderung verbessern: Kurs- und Prüfungskosten, die auch 15.000 Euro ausmachen können, werden mit dem „Aufstiegs-Bafög“ zwar zur Hälfte als Zuschuss aus öffentlichen Mitteln bezahlt, zur anderen Hälfte aber nur als Darlehen. Falls die Prüfung schiefgeht, ist für Betroffene neben der Zeit auch viel Geld weg.

„Das ist eine Unwucht zulasten der beruflichen Bildung – zumindest solange es ein gebührenfreies Hochschulstudium gibt“, moniert Dercks. In der Erhebung hatten mehr als die Hälfte der Absolventen für ihre Fortbildung das Aufstiegs-Bafög in Anspruch genommen. Im Koalitionsvertrag haben die Ampelparteien vereinbart, bestehende „Förderlücken“ im Vergleich zum Studenten-Bafög zu schließen. Nun sei es Zeit dafür, findet Dercks.

 

FDP: Wo sind all die Wähler hin?

(Pioneer Breifing) – Das Problem der FDP in einem Wort? Unehrlichkeit.

Die Partei des Liberalismus ist nicht etwa gegenüber dem Bürger, der Wirtschaft oder dem Kanzler unehrlich. Sie ist unehrlich zu sich selbst.

Sie mag nicht von außen kritisiert werden, was man ja verstehen kann. Aber sie mag auch nicht nach innen freimütig diskutieren, warum sie da steht, wo sie steht. Die entscheidenden fünf Fragen bleiben auf diese Art nicht nur unbeantwortet. Sie bleiben ungestellt:

Warum haben sich gegenüber der erfolgreichen Bundestagswahl von 2021 knapp drei Millionen Wählerinnen und Wähler in die Büsche geschlagen?

Wieso hat die Partei alle Regierungsämter in Nordrhein-Westfalen verloren?

Saarland, NRW, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Berlin: Warum sind mittlerweile fünf Landtagswahlen hintereinander verloren gegangen?

Warum reicht es für eine liberale Großstadtpartei nicht mal in der Hauptstadt zu einem Sitz im Berliner Abgeordnetenhaus?

Warum kann die FDP von der Verbotsorgie der Grünen und den Steuererhöhungsfantasien von SPD und Grünen nicht profitieren?

Die demoskopischen Befunde, die Professor Manfred Güllner von Forsa gestern unter der Überschrift „Der große Wählerschwund der FDP“ veröffentlicht hat, sind von allen Weckrufen der vergangenen Monate der schrillste. Demnach…

… wandelt sich die FDP von einer Klientelpartei für den Mittelstand zu einer Protestpartei für junge Männer.

… verliert die FDP vor allem die älteren Wähler und auch jene mit geringerem Haushaltseinkommen.

….. haben ausgerechnet diejenigen FDP-Wähler das Vertrauen verloren, die mit einer pessimistischen Wirtschaftsentwicklung rechnen.

…. ist die Abwanderung in Ostdeutschland überproportional stark.

Die verlorene Berlinwahl illuminiert die Unehrlichkeit der FDP auf der großen Bühne. Vom Parteivorsitzenden bis zum Spitzenkandidaten sind sich noch in der Wahlnacht alle einig: Es lag nicht am Kandidaten, nicht an der Kampagne, auf keinen Fall an den tapferen Wahlkämpfern. Vermutlich hat sich das Bürgertum einfach geirrt oder – schlimmer noch – die Genialität der Wahlkampfführung nicht verstanden. Schäm dich, Wähler!

Es ist ja nicht so, dass es Christian Lindner an Dynamik und Selbstbewusstsein mangelt. In seinem Freiheitsdrang, der auch die Freiheit einer verweigerten Selbstbesinnung beinhaltet, erinnert er an den jungen Friedrich Schlegel, der in seiner Zeit als genial und unberechenbar galt. „Mein Ziel ist zu leben, frei zu leben“, verkündete er und riet selbst den Freunden davon ab, ihm zu nahe zu kommen. „Am liebsten besieht man mich aus der Ferne wie eine gefährliche Rarität.“

Die Mutter war nicht glücklich über die Entwicklung ihres einen Sohnes: „Gib ihm guten Rat und Vermahnung“, schrieb die Mutter von Friedrich an ihren Sohn August Wilhelm, auf dass er seinen jüngeren und dynamischeren Bruder zur Besinnung bringen möge: „Fritze, macht uns Not.“

Die oben genannten Umfrageergebnisse des Forsa-Instituts dürften bei einigen FDP-Politikern tiefe Sorgenfalten verursachen. Wo liegen die Gründe für die schlechten Zahlen aus der internen Sicht?

Das wollte ich von Ria Schröder wissen. Sie war Vorsitzende der Jungen Liberalen und sitzt seit anderthalb Jahren im Bundestag für die FDP als bildungspolitische Sprecherin ihrer Partei. Die Unzufriedenheit der FDP-Wähler auf Bundesebene ist laut Schröder auf externe Ursachen zurückzuführen:

 

 

Der große Exodus: Deutschland vertreibt seine Industrie

(Pioneer Briefing) – Wissenschaftler und Vorstände von Aktiengesellschaften pflegen in Deutschland traditionsgemäß einen gemäßigten Ton. Sie tragen gedeckte Farben. Sie schlagen nicht gerne an die große Alarmglocke. Ruhiger und sachlicher Umgang miteinander, über die Grenzen von Theorie und Praxis, von Politik und Unternehmen hinweg, gehört zur Kultur dieses Landes. Dies ist einer der Gründe, warum Deutschland so stark ist. Zur kollektiven Erfahrung in Wirtschaft und Wissenschaft gehört, dass Schweigen oft besser ist als öffentliches Reden und dass man Kritik meist effizienter hinter verschlossenen Türen anbringen kann als auf dem Marktplatz.

Dies sind die Regeln. Doch von diesen Regeln gibt es Ausnahmen. Hin und wieder, vielleicht einmal pro Dekade, treten besondere Umstände ein, in denen alle sachlich vorgetragenen Hinweise in kleiner Runde nichts bringen und tief sitzende Frustration sich breitmacht. In denen Loyalität zum Land und Verantwortung für die Volkswirtschaft so stark in Konflikt zu Verfehlungen der Politik geraten, dass gar nichts anderes übrig bleibt, als seine Stimme laut und hörbar zu erheben.

Einen solchen Punkt haben wir jetzt erreicht – und zwar in der Energiepolitik. Vergleichbar ist die gegenwärtige Lage nur mit der Phase von Massenarbeitslosigkeit und weit verbreiteter Hoffnungslosigkeit vor der Ankündigung der Agenda 2010 durch Gerhard Schröder im Jahr 2003.

Die Parallelen zu damals sind offenkundig:

  • Damals legte Deutschland sich lahm durch einen übermäßig erstarrten Arbeitsmarkt. No fire, no hire. Kreativität und Unternehmertum erstickten in verkrusteten Vorschriften.
  • Heute führt die schlecht geplante und mangelhaft durchgeführte Energiepolitik zur Deindustrialisierung des Landes. Der Energiepreis ist nicht einfach nur ein Preis unter vielen. Er ist der Preis aller Preise. Jede Form wirtschaftlicher Wertschöpfung bedingt immer die Transformation von Vorprodukten in Endprodukte. Diese Transformation verbraucht Energie. Steigt der Preis von Energie über ein Maß hinaus, das über die Absatzpreise an Kunden weitergegeben werden kann, dann wird diese Transformation schlichtweg eingestellt. Die wirtschaftliche Tätigkeit erstirbt. Energiepreise wirken oft noch stärker als Zinsen auf den wirtschaftlichen Output. Kein anderer Faktor kann Deindustrialisierung so schnell erzwingen wie der Energiepreis.

Manche Länder, wie die USA oder Großbritannien, haben ihre eigene Deindustrialisierung vor Jahrzehnten mutwillig beschlossen und bereuen dies inzwischen. Die Vereinigten Staaten unter Präsident Joe Biden machen diesen Fehler nun wett durch ein machtvolles Programm der Reindustrialisierung.

Deutschland hat zum Glück nie vorsätzlich vereinbart, seine Industrie aus dem Land zu vertreiben. Doch nun geschieht genau dies als Begleitschaden einer chaotischen Energiepolitik. Fahrlässig ohne Vorsatz, dafür aber mit grober Fahrlässigkeit – das ist fast noch schlimmer. Grobe Fahrlässigkeit beruht auf Ignoranz, Pflichtvergessenheit und Unkenntnis. Sie zu erkennen und zu heilen, bedarf der Selbstreflexion und Einsicht. Davon ist Deutschland weit entfernt.

Dies ist der Grund, warum führende Köpfe aus Wissenschaft und Wirtschaft ihre Stimme erheben. Sie fordern eine Umkehr. In der heutigen Ausgabe unseres Tech Briefing Podcasts kommt Matthias Zachert zu Wort, Vorstandsvorsitzender des börsennotierten Spezialchemie-Unternehmens Lanxess mit Sitz in Köln. Zachert und sein Team haben ihr Unternehmen zu einem international erfolgreichen Powerhouse aufgebaut, doch sie fühlen sich ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen eng verbunden. Aus genau diesem Grund erhebt Matthias Zachert deutlich seine Stimme.

Ein Weckruf, den jeder hören sollte, der in der Politik Verantwortung trägt. Warum? Weil Zachert zum ersten Mal in der Geschichte seines Unternehmens von der traditionellen Linie abrückt, Erweiterungsinvestitionen bevorzugt an den heimischen Standorten vorzunehmen. Damit ist es jetzt vorbei. Lanxess kann es sich wegen der Energiepreise nicht mehr leisten, sein Engagement in Deutschland zu verstärken.

Das Unternehmen verabschiedet sich – wenn die Politik nichts ändern – auf Raten ins Ausland, vor allem in die USA. Das ist nicht nur keine leere Drohung; sondern überhaupt keine Drohung. Es ist schlicht und einfach die Schlussfolgerung aus Excel-Tabellen. Produktion in Deutschland rechnet sich auf diesem Preisniveau nicht mehr. Was sich nicht rechnet, wandert ab. Diese simple Wahrheit bleibt vielen Politikern verschlossen, was aber nichts daran ändert, dass Arbeitnehmer und Gesellschaft die Kosten und Folgen der Abwanderung kollektiv zu tragen haben.

Eine solche Abwanderung erfolgt selten schlagartig. Sie vollzieht sich in langsamem Tempo. Wer das nicht versteht, erleidet das Schicksal des sprichwörtlichen Froschs im langsam heißer werdenden Wassertopf. Erst gibt es keine Erweiterungsinvestitionen mehr, dann wird irgendwann die Wartung zurückgefahren, dann veralten die Anlagen, dann steht eines Tages eine Industriebrache dort, wo früher Menschen arbeiteten.

Linde verlässt den Dax und ist an die Wall Street verloren. Lanxess kündigt Deutschland seine Treue auf. Viele andere Beispiele belegen den Trend. Konzernlenkern wie Wolfgang Reitzle und Matthias Zachert ist es hoch anzurechnen, dass sie nicht im Verborgeneren handeln, sondern aktiv und öffentlich warnen, bevor sie ihre unweigerlichen Schlussfolgerungen ziehen. Aufgabe von Politik und Gesellschaft ist es, diese Warnungen ernst zu nehmen, sie nicht in den Wind zu schlagen und den Trend entschlossen aufzuhalten.

Einer Studie der Deutschen Bank zufolge schrumpft die Produktion wegen der steigenden Energiepreise in Deutschland 2022 um 2,5 Prozent und im Jahr 2023 um fünf Prozent. Mit der Produktion schrumpft auch der Wohlstand.

Erschreckend sind schon die nackten Zahlen: Die Internationale Energieagentur (IEA) rechnet mit etwa 80 Euro pro Megawattstunde Erdgas. Teilweise muss man am Gasspot-Markt sogar mit 90 Euro kalkulieren. Der Gaspreis lag im Januar 2023 um die 66 Euro je Megawattstunde am niederländischen Großhandelsplatz TTF. Im November wurden durchschnittlich 94 Euro pro MWh Gas fällig. Im Oktober lag der Börsen-Gaspreis noch bei durchschnittlich 82 Euro pro MWh. Auf dem Höhepunkt der bisherigen Preis-Aufwärtsspirale Ende August 2022 betrug der Großhandelspreis für eine MWh an der niederländischen TTF-Börse 346 Euro.

Unter solchen Umständen wird energieintensive Produktion in Deutschland zum Spiel für Hasardeure. Diesem Menschenschlag aber dürfen verantwortungsbewusste Führungspersönlichkeiten nicht angehören.

Und die Wissenschaft? Selbst ein besonnener Wissenschaftler wie Hans-Werner Sinn, ehemaliger Präsident des Ifo-Instituts, weiß sich keinen anderen Rat mehr, als mit dem ganz dicken Schlegel machtvoll an die Alarmglocke zu schlagen. Wie jüngst in der Neuen Osnabrücker Zeitung

Kern seines Arguments: Jeder Liter Öl und Kubikmeter Gas, den wir in Deutschland einsparen, steht dem Weltmarkt weiter zur Verfügung, wird von anderen Ländern eingekauft und dort verarbeitet oder verbrannt. Dies geschieht sogar zu sinkenden Preisen, da alle deutschen Einsparmaßnahmen nachfragemindernd und damit preissenkend wirken. Es wird genauso viel fossile Energie verbraucht wie ohne Deutschlands Anstrengungen, doch die Kohlendioxid-Emissionen steigen, weil die billig kaufenden Länder weniger Umweltschutz betreiben als Deutschland.

Nur einen einzigen Ausweg gibt es aus dieser Malaise, argumentiert Sinn

Das deutsche Bildungssystem – eine unentbehrliche Rohstoffreserve

Als ehemaliger Oberstudienrat, der die Aufgabe hatte, Physik, Elektrotechnik und Technologie an heranwachsende junge Menschen zu vermitteln, kann ich dem nur zustimmen. Als mir dann das WDR-Fernsehen die Chance gab, im neu entstehenden 3. Programm die Redaktion Naturwissenschaft und Technik aufzubauen, konnte das weiterführen, aber diesmal an ein breites Fernseh-Publikum mit ersten Sendereihen wie ‚Energie, die treibende Kraft‘ (1971 – 13 Folgen), ‚Einführung in die Elektronik‘ (1972, 13 Folgen), ‚Einführung in die Digitaltechnik (1974, 13 Folgen). Ich wollte den normalen Bürger, der eher Bildungs-skeptisch war, heranführen an die Voraussetzungen, die explosionsartige Entwicklung der Technologie und Wissenschaft einigermaßen zu verstehen. Ende 1974 entwickelte ich dann die Sendeform der ‚Hobbythek‘, um auch den bildungsfernen Zuschauern die Notwendigkeit und Bedeutung von Wissenschaft zum ‚Begreifen‘ im wahrsten Sinne des Worte zu vermitteln. Für mich war das ein ‚trojanisches Steckenpferd‘, um diese Ziele zu erreichen, ohne erhobenen Zeigefinger, mit der Unterhaltung des möglichen Verstehens.

Es ist mir nicht gelungen, die Schwarmintelligenz der Deutschen auch nur einen Deut zu verbessern. Manchmal frage ich mich, ob ich mit dieser Absicht versagt habe. Doch heute weiß ich, dass es höchstens eine begleitende Absicht war, der Staat hat der Bildung zu wenig Wert beigemessen und sie in folge dessen vernachlässigt. Jetzt haben wir den Salat. Jeder Bürger hat in unserer Demokratie eine Stimme. Eigentlich müsste er auch die Politik in ihren Vorgaben kontrollieren, leider ist die Wissenschaft und Technologie so explosionsartig fortgeschritten, dass kaum jemand mehr Verständnis dafür entwickeln kann. Das gilt besonders für die digitalen Errungenschaften, die uns zwar das Leben leichter machen, aber auch den Meisten die Neugier genommen haben.

Dieses Nichtwissen wurde immer mehr durch den ‚Glauben‘ ersetzt. Aber ‚Glauben‘ kann sehr schnell in Irrationalität ausarten. Die politischen Vorgaben – heutzutage insbesondere was die Klimarettung anbelangt – die auf Wunschdenken beruhen, sprechen für sich. Der vorherrschende Populismus hat daher seine Ursache. Es reicht aus, dem Bürger klarzumachen, dass ein Auto ohne Auspuff Klima schützende Eigenschaften hat, schon wir das zur Lösung hochstilisiert. Das beruht auf mangelnde Bildung für Naturwissenschaft und Technik. Ob das in einer derzeit satten Gesellschaft ohne Neugier überhaupt zu lösen ist? Wo bleibt das Land der Dichter und Denker?!

Jean Pütz

(Pioneer Briefing) – Die Zeiten haben sich geändert, der Befund bleibt:

Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont. “

So sprach einst Bundeskanzler Adenauer – leicht arrogant – über das ihm anvertraute Staatsvolk.

Spätestens heute – in der sich herausbildenden nach-industriellen Wirtschaft – schreit dieser Befund nach seiner Überwindung. Die Horizont-Erweiterung ist die vornehmste Aufgabe einer Gesellschaft, deren wichtigster Rohstoff die Bildung ist. Nicht allein der Zugang zu bezahlbarer Energie, sondern der Zugang und die Exploration dieses Rohstoffs entscheiden über die Zukunft dieses Landes.

In aufklärerischer Absicht hat daher ein Pioneer-Team – bestehend aus Bildungsexperten, Ökonomen und Grafikern – einen virtuellen Kontrollraum geschaffen, auf dessen Armaturenbrett wir die wichtigsten Aggregate unseres Bildungssystems betrachten können.

Armatur 1 nennt sich Schulbarometer und misst die Stimmung unter den Schulleitern. Die Daten dazu stammen aus einer im Auftrag der Robert Bosch Stiftung veranstalteten Umfrage. Demnach ist die Stimmung finster, denn der Lehrermangel setzt das System einem spürbaren, auch medizinisch relevanten Stress aus, der sich in hohen Burn-Out-Raten und dem Wunsch nach Teilzeitarbeit und Frühpensionierung entlädt.

Die Schule, diese Erkenntnis verstärkt das Schulbarometer, ist ein Ort, der krank, traurig und in vielen Fällen auch depressiv macht. Es gibt – anders als in vielen anderen Branchen – auch nicht die Möglichkeit, sich mit kühnen Aufstiegsvisionen, Gratifikationen oder Gehaltssteigerungen zu betäuben. Lohn und Leistung sind weitgehend entkoppelt.

Armatur 2 liefert die harten Daten zum Gefühl der Lehrer. Der Leistungsdruck wird erzeugt durch einen eklatanten Lehrermangel. Im Schuljahr 2025/2026 werden voraussichtlich 35.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen – fünf Jahre später sind es schon 68.000 und 2035/2036 sogar 76.000, prognostiziert eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Köln, das Professor Michael Hüther führt.

Armatur 3 misst die Zusammensetzung der Schülerschaft, die sich seit den Zeiten einer weitgehend homogenen deutschen Gesellschaft gravierend verändert hat. In Hamburg besitzen heute 51 Prozent aller Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund. Drei von zehn Kindern wachsen in einem Haushalt auf, in dem kein Deutsch gesprochen wird.

In Nordrhein-Westfalen hatten im vergangenen Schuljahr 40 Prozent eine Zuwanderungsgeschichte. Und in Berlin wuchs in den vergangenen 10 Jahren der Anteil der Schüler mit einer nicht-deutschen Herkunftssprache von 35 auf 41 Prozent. In vielen Schulklassen der Grundschule herrscht eine babylonische Sprachverwirrung.

Armatur 4 belegt, dass das Zusammentreffen einer multikulturellen Schülerschaft mit einem geschwächten Lehrkörper das Bildungsniveau senkt. Schon im vergangenen Jahr hatte der IQB-Bildungstrend für großes Aufsehen gesorgt, da er feststellte, dass sich die Kompetenzen in Deutsch und Mathematik in der vierten Klasse dramatisch verschlechtert haben. Je nach Kompetenzbereich verfehlen im Schnitt 18 bis 30 Prozent der Schüler die Mindeststandards.

Im Bundesdurchschnitt nehmen die Schülerleistungen seit 2011 in fast allen Bereichen ab. Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen nennt diesen Trend „besorgniserregend“.

Armatur 5 misst die Lehrer-Pipeline. Doch die ist weitgehend leer. Der Nachschub von den Universitäten tröpfelt nur und strömt nicht mehr. Es werden nicht genügend Lehrkräfte ausgebildet. Die Länder haben dieses Problem zwar erkannt, aber stehen weitgehend machtlos vor der Tatsache, dass der Beruf an Attraktivität verliert.

Viele Abiturienten beginnen ein Lehramtsstudium, weil sie nach dem Abitur orientierungslos sind und nicht wissen, was sie sonst machen wollen. Also studieren sie ihre Leistungskurse aus dem Abitur – bis sie feststellen, dass die Welt der anderen Fächer bunter und oft chancenreicher ist. Laut Zahlen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung bricht im Bachelor-Studium fürs Lehramt mittlerweile jeder fünfte Student sein Studium ab.

Armatur 6 zeigt die föderale Zersplitterung der Bildungslandschaft. 16 Bundesländer entwickeln ihre eigenen Konzepte, Lehrpläne, Systeme. Die Schulminister beteuern zwar in der Kultusministerkonferenz, wie gut sie über Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten, machen sich bei der Bekämpfung des Lehrermangels aber Konkurrenz.

Armatur 7: Der Freistaat Bayern, wo das Land gern 6000 neue Stellen besetzen will, wirbt nun Lehrer aus anderen Bundesländern ab. Hierfür plant Markus Söder Lockangebote, zum Beispiel finanzielle Anreize und Umzugshilfen. Auch Mecklenburg-Vorpommern hat eine Kampagne aufgelegt, die für Leben und Unterrichten „im Urlaubsland Nummer eins“ wirbt.

Armatur 8 zeigt die unzureichende Evaluation. Die Tachonadel dreht hier wie hinter einer Milchglasscheibe, weil die Schulen den Bildungsstand ungern messen. Sie fürchten die Vergleichbarkeit. Es braucht aber eine gute Datengrundlage, um Missstände und Defizite (ob in einzelnen Klassen, Schulen, Jahrgängen oder Bundesländern) schnell zu erkennen, um dann reagieren zu können.

Hamburg macht das seit Jahren erfolgreich: Durch engmaschige Monitorings, Leistungstests und Schulinspektionen erkennt der Senat direkt, wenn es Probleme gibt und kann gezielt reagieren. Resultat: Die Hansestadt holt im Bildungstrend als einzige auf und gilt mittlerweile als Musterbeispiel.

Fazit: Auf der Reformbaustelle Bildungspolitik herrscht ein Baustopp. Ein Reformer ist hier schon lange nicht mehr gesichtet worden. Keine Anstrengung, nirgends. Thomas von Aquin wusste, dass das nicht gut gehen kann:

 

 

Industrie verabschiedet sich von Deutschland

(Pioneer Briefing) – Im Fernsehen ist viel die Rede von einer Willkommenskultur. Doch im wahren Leben der deutschen Industrie entwickelt sich eine Abschiedskultur. Es sind viele leise Abschiede, die in diesen Tagen begangen werden. Zum Requiem erscheinen keine Politiker und keine Pfarrer. Es wird nicht geweint und nicht gesprochen. Die meisten, die gehen, gehen stumm.

Nach dem Massensterben der deutschen Textilindustrie, bei dem fast eine halbe Million Jobs verloren gingen, der Verlagerung der großen Werften und den Konkursen von Bremer Vulkan und anderen, dem Zechensterben im Ruhrgebiet und dem Schrumpfungsprozess in der Stahlindustrie hat die nächste große Welle das Land erfasst, die zur Vernichtung von Wohlstand und Arbeitsplätzen führen wird.

Es sind im wesentlichen drei Gründe, die dieses neuerliche Firmensterben oder die Abwanderung von Produktion ausgelöst haben:

1. Der Energiepreisschock

Holger Loclair macht sich Sorgen um sein Familienunternehmen Orafol mit Sitz im brandenburgischen Oranienburg. Denn er verbraucht rund 32.000 Kubikmeter Gas pro Tag – rund 16-mal so viel wie ein Durchschnittshaushalt im Jahr. Aufgrund des enormen Kostenschubs will er einen Teil der Produktion für hochwertige

Der Mann ist das Rollenmodell der neuen deutschen Auswanderungswelle. 17 Prozent der Firmen wollen laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) ihre inländische Produktion wegen der hohen Energiepreise zurückfahren, acht Prozent die Produktion verlagern. DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben ist kein Apokalyptiker, aber er sagt:

Auch Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), warnt vor einer schleichenden Deindustrialisierung. Der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung in Deutschland ist seit 2016 von 25,9 auf 23,4 Prozent gefallen – „eine besorgniserregende Entwicklung“.

2. Die Forschungsbürokratie

Die europäische Neigung zur politischen Regulierung – die getrieben wird von der Angst vor Risiken – treibt insbesondere forschungsintensive Firmen ins Ausland. In den Vorstandsetagen wird nicht mehr gezetert, es wird verlagert. So liegt die Zukunft des Arzneimittelgeschäfts für die Bayer AG in den USA und in China, anstatt in Europa. Stefan Oelrich, Leiter des Pharmageschäfts bei Bayer, sagt:

Auch der Impfstoffentwickler BioNTech denkt neu. Das Pharmaunternehmen aus Mainz gilt als deutsche Erfolgsgeschichte, binnen eines Jahres entwickelten die Gründer Uğur Şahin und Özlem Türeci einen Corona-Impfstoff – und wurden für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Doch wichtige Teile der Krebsforschung des Unternehmens werden bald nach Großbritannien umziehen, berichtete gestern zuerst die BILD-Zeitung. Türeci erklärt:

3. Die amerikanische Versuchung

Die USA drängen und locken immer mehr deutsche Unternehmen zur Verlagerung von Produktion. Neben der Marktnähe und der Minimierung von Währungsrisiken sind die niedrigen Energiepreise und die ausgelobten Subventionen zum Faktor der transatlantischen Verlagerung geworden.

Vor der kalifornischen Westküste werden bald RWE Windkraftwerke am Horizont auftauchen. Ende des vergangenen Jahres sicherte sich der Essener Energiekonzern die Rechte für einen Windpark, der 640.000 US-Haushalte mit erneuerbarer Energie versorgen soll.

RWE ist der amerikanischen Versuchung erlegen. Für Offshore-Windanlagen gibt es bis zu 30 Prozent Steuergutschriften im Rahmen des Inflation Reduction Acts. Insgesamt sind rund 370 Milliarden US-Dollar Subventionen für die Energiebranche und den Klimaschutz vorgesehen. Es gibt kein energieintensives deutsches Unternehmen, das nicht intern die Chancen dieser Anlock-Prämie für sich taxiert.

Deutschland will keinen Krieg: Selenskyis Fehler

(Morning Briefing) – Die Interessenlagen sind nicht konträr, aber in wichtigen Nuancen doch sehr unterschiedlich: Der ukrainische Präsident wird dafür bezahlt, dass er sein Land vor dem russischen Aggressor rettet. Der deutsche Kanzler wird dafür bezahlt, dass die Deutschen wieder in Frieden ihrer Wohlstandsmehrung nachgehen können.

Es gibt in Deutschland eine große Hilfsbereitschaft, aber keine Kriegsbereitschaft. Wenn die Deutschen könnten, würden sie jetzt nicht SPD, CDU oder die Grünen wählen, sondern den Frieden. Den Umweg über die Lieferung von Kampfpanzern nehmen sie in Kauf, wenn auch knurrend. Olaf Scholz mit all seiner kommunikativen Verschlossenheit und spürbaren Widerwilligkeit, die er mühsam als Besonnenheit tarnt, ist der Notar deutscher Gefühle.

Selenskyj bringt den Kanzler in eine zunehmend schwierige Position. Der Kriegspräsident versucht, den deutschen Kanzler zu einem Soldaten der ukrainischen Befreiungsarmee im Donbass und auf der Krim zu machen. Das will der nicht sein. Und das darf er nicht sein wollen. Dafür fehlt ihm das Mandat.

Selenskyj macht fünf gravierende Fehler, die auch dann Fehler bleiben, wenn er sie für Heldentaten hält.

Fehler 1: Selenskyj will zu viel zu schnell. Kaum ist der Dank für die Panzer des Westens verklungen, fordert er die Lieferung von Langstreckenraketen, Kampfjets und U-Booten. In einem Telefonat mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und auch öffentlich hat er dieser Forderung Nachdruck verliehen, bevor die neuen Kampfpanzer an der Front überhaupt ihre Wirkung entfalten konnten.

Auch der ehemalige deutsche Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk, schlägt als neuer Vize-Außenminister bewusst harsche Töne an:

Das Team Selenskyj wirkt damit auf viele Deutsche ungeduldig, undankbar, auch unseriös. Womöglich hat der Mann in Kiew zu viele Churchill-Biografien gelesen.

Fehler 2: Selenskyj lehnt Friedensverhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt ab. Damit droht er, das Momentum zu verpassen.

Niemand – außer Kissinger – widerspricht ihm derzeit. Der Westen ist groß darin, das Momentum zu verpassen: Die unrühmlichen militärischen Niederlagen in Vietnam, im Irak und zuletzt in Kabul haben bei denen, die jetzt nach mehr Waffen und mehr Krieg rufen, keine Spuren im Selbstbewusstsein hinterlassen. Sie hoffen, die Ausgangslage für spätere Friedensgespräche durch mehr Militär zu verbessern. Aber der Heldenfriedhof ist voll mit den verstorbenen Hoffnungen von Kriegsherren, deren Ambition größer war als ihre realpolitische Möglichkeit.

Aus der Ukraine erreicht uns eine Kaskade von Durchhalteparolen, die kämpferisch klingt, aber die Interessen der Deutschen und die Gefühle der deutschen Wähler ignoriert. Etwa wenn der Berater des Präsidenten Mykhailo Podolyak an den Westen gerichtet sagt:

Fehler 3: Das inszenatorische Moment bei Selenskyj ist zu stark ausgeprägt. Dazu muss man wissen: Er war nicht nur Schauspieler, sondern gründete 2003 auch eine erfolgreiche Produktionsfirma, das Studio Kwartal 95. Freunde aus diesem Umfeld besetzen heute Schlüsselpositionen in der Regierung.

Der Leiter des Präsidialamts, Andrij Jermak, war einst selber Filmproduzent. Der Chefberater Serhij Schefir stammt ebenfalls aus Studio Kwartal 95, wie auch Geheimdienstchef Iwan Bakanow. Die NZZ-Auslandsredaktion fand heraus:

Fehler 4: Unter den Augen des Präsidenten blühen weiter Korruption und Vetternwirtschaft. Zwar hatte Selenskyj im Wahlkampf versprochen, diese Spätfolgen der Wendezeit zu bekämpfen. Aber er hat nicht geliefert. Der wichtigste Kronzeuge für das Scheitern dieser Säuberungsbemühungen ist Selenskyj selbst, der in den vergangenen Tagen neun Mitglieder des engsten Kreis der ukrainischen Führung wegen schwerer Korruption und dem Verdacht der Vetternwirtschaft entlassen hat.

Kyrylo Tymoschenko – stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung und enger Freund Selenskyjs aus der Filmbranche – nutzte ein für die Evakuierung von Zivilisten vorgesehenes Auto privat. Vize-Infrastrukturminister Wassyl Losynsky soll 400.000 US-Dollar Bestechungsgeld bei der Anschaffung von Generatoren angenommen haben. Das Verteidigungsministerium habe weit überteuerte Lebensmittel für Soldaten gekauft. Insgesamt mussten fünf Gouverneure, vier Vize-Minister und mehrere hochrangige Beamte gehen.

Selenskyj hat diese Herren nicht aus freien Stücken entlassen, er hat sie entlassen müssen. Diese Fälle wurden von den Medien aufgedeckt.

2021 belegte das Land, das nunmehr sein Land ist, den 122. Platz im Korruptionsindex und lag damit hinter Sambia, Nepal und den Philippinen. Der Europäische Rechnungshof urteilte Ende 2021:

Fehler 5: Selenskyjs Ambition reicht über die Befreiung der Ukraine hinaus. Er versucht, einen Kulturkampf gegen Russland anzuzetteln – gegen russische Sportler, russische Autoren, Musiker und Schauspieler. So verlangt sein Kulturminister, dass die Musik des vor 130 Jahren gestorbenen russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski im Westen nicht mehr gespielt werden dürfe. Derzeit versucht er, das IOC zu überreden, russische Sportler von den Olympischen Spielen 2024 in Frankreich auszuschließen.

 

Heinrich-Heine-Dichter und Vordenker – Mit einem Nachwort von Jean Pütz

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, Dann bin ich um den Schlaf gebracht.“

Diese Zeilen dürften die aktuellen Nächte so mancher deutscher Politiker beschreiben. Ihren Ursprung haben sie allerdings im Gedicht „Nachtgedanken“ von 1844 aus der Feder des damals im Exil lebenden Heinrich Heine.

Er drückte mit diesen Zeilen sein Unwohlsein ob der politischen und gesellschaftlichen Missstände in seinem Heimatland aus. Er benutzte dabei nicht den Amboss, sondern die leichte Feder. Im Twitter Zeitalter hätte er damit womöglich einen viralen Hit gelandet.

Heute vor 225 Jahren, also am 13. Dezember 1797, wurde Harry Heine in Düsseldorf geboren und im Geist der jüdischen Aufklärung erzogen. 1825 ließ er sich protestantisch taufen und gab sich den Namen Heinrich, womit er sich bessere Einstellungschancen nach seinem Jurastudium erhoffte. Er widmete sich wenig später dem Schreiben als Schriftsteller, Dichter und Journalist.

Heine gilt als Vertreter und Überwinder der Romantik, beschrieb sich selbst als „entlaufenen Romantiker“. In seiner Jugend verfasste er vorrangig Gedichte über die unerfüllte Liebe, wobei er – anders als die meisten Dichter und Journalisten, auch die heutigen – ein fruchtbares Verhältnis zur Ironie entwickelte. Er war komisch, aber nicht lustig. Er war ernst, aber nicht verbissen.

Er beherrschte die Sprache derart virtuos, dass man im wörtlichsten aller Sinne von Kunstfertigkeit sprechen kann.

In seinem Gedicht „Das Fräulein stand am Meere“ parodierte er das Heiligste der damaligen Romantiker, den Sonnenuntergang am Meer.

„Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein, sei’n sie munter,
Das ist ein altes Stück:
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.“

Meine persönliche Bemerkung:

Heinrich Heine – Gedanken zum 225. Geburtstag

 

Mein persönlicher Ansatz:
Es gibt wenige Gedichte, die mich in meiner Jugend sehr beeindruckt haben. Wir – meine Familie und ich – hatten den Krieg mit schrecklichen Erlebnissen überstanden. Ich war gerade 10 Jahre alt und desozialisiert: der Hunger, keine Wohnung, aber wir hatten einen Ausweg, mein Luxemburg. Die Verbrechen der Nazis waren dort in Hass umgeschlagen, ich begriff zum ersten Mal, was Politik bedeutet und verstand nicht, wie ein zivilisiertes Volk einem Psychopaten wie Hitler überhaupt die Macht übertragen konnte. Menschenrechte ade, und alles brach in mir zusammen.

Hinzu kam die Pubertät, die den Pessimismus in mir verstärkte. Ein Ausweg war die Flucht in die Welt der Bücher. Ich gestehe ehrlich, dass mich ein Schriftsteller wie Karl May sehr beeindruckt hat. Als ich diese Phase überwunden hatte, waren es drei Poeten, die mich erlösten: z. B. Erich Kästner mit seinen Büchern für Erwachsene. Besonders ein Gedichtband baute mich auf, den ich heute noch jedem empfehlen kann. Es strotzt von Lebensweisheit und einer Art Ironie, die aus der Ohnmacht geboren war: „Der Gegenwart ins Gästebuch“. Heute würde sein Gedicht: ‚Die sogenannten Klassefrauen‘ auf Empörung und Verachtung stoßen, aber mir hat es in der Pubertät sehr geholfen.

Es hat mein Frauenbild auf realistische Säulen gestellt. Ich war zu sehr Romantiker. Aber diese Phase zu genießen kann ich nur jedem empfehlen.

Dann war es Heinrich Heine, der mich enorm beeinflusste. Auch er begann seine Gedichte mit romantischen Schwärmereien, um dann der Realität Tribut zollen zu müssen. Heute holt es mich im hohen Alter wieder ein. Wenn ich an der Loreley vorbei fahre, denke ich immer an sein Gedicht und das daraus resultierende Lied: ‚Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‘, seitdem geht mir das nicht mehr aus dem Kopf. Auch die Melodie quält mich immer noch. Doch besonders beeindruckt hat mich sein Gedicht: ‚Denk ich an Deutschland in der Nacht, so werd‘ ich um den Schlaf gebracht‘.

Wie sich die Zeiten gleichen.

Dann gab es noch einen dritten Schriftsteller. Kurt Tucholsky brachte mir nachdenklichen Humor bei. Manchmal versetze ich mich in seine Situation, als man seine Bücher verbrannte. Wie glücklich können wir uns heute schätzen, dass wir in einer nicht idealen Demokratie leben, aber wir müssen unsere Meinung nicht verstecken, wie die damaligen Schriftsteller, inkl. Heinrich Heine, der ähnliches erlebte. Wie schrecklich muss es seinerzeit für diese Schriftsteller gewesen sein, ihre Erkenntnisse vom Untergang Deutschlands tief in sich vergraben zu müssen und den Mund zu halten, denn sonst landeten sie im KZ. Das ist einer der Gründe, weshalb ich auch im hohen Alter meine recherchierte Kritik offen zur Kenntnis gebe, egal wo ich bin. Ich danke meinen Vorgesetzten insbesondere im WDR, die mich nie gezwungen haben, etwas gegen meine

Überzeugung zu veröffentlichen und mir freie Hand gaben in der Wahl meiner Themen. Vielleicht waren deshalb viele meiner Themen der Zeit um 20 Jahre voraus. Heinrich Heine hat mir den Weg gewiesen,

Danke Jean Pütz

Deutschland auf dem Weg zum Abgrund

(Wirtschaftswoche) – Mit den Meldungen zur Energieversorgung ist es derzeit, als ob man am Bahnsteig steht, und dann rauscht der ICE durch, direkt vorm Gesicht. Laut, schnell, scheinbar endlos. Nehmen Sie allein die vergangenen zwei Wochen: Das Rettungspaket über 65 Milliarden Euro, Robert Habecks Stresstest in der Nuklearsache, der GAU für den Minister allerdings in der Bäckerfrage bei „Maischberger“. Der Gas-Importeur VNG bittet übrigens um Staatshilfe, nach Paragraf 29 Energiesicherungsgesetz. Die Stadtwerke schlagen Alarm, der Mittelstand auch. Da muss doch ein Rettungssch … aber halt: erst mal Uniper retten, die Regierung soll jetzt doch die Mehrheit übernehmen. Notwendig, oder? Aber ist die Zufallsgewinnsteuer auch notwendig, die gerade in Brüssel vorgestellt wird? Funktioniert das? Oder muss doch erst klargemacht werden, dass die Öl-Raffinerie, Sie ahnen es, in Schwedt gesichert wird? Und wie kann es sein, dass jetzt selbst E.On Kunden rauswirft? Was kommt da noch?

Weil selbst uns da bisweilen etwas der Kopf schwirrt, versuchen wir hier, die vergangenen Tage ein wenig zu sortieren, auch uns zu orientieren – und beantworten fünf Fragen, die uns in den vergangenen Tagen besonders wichtig erscheinen.

1. Und wer rettet den Mittelstand? 

Viel wird berichtet, auch von uns, über die Notlage von Verbrauchern. Gas? Strom? Die Preise steigen, Anbieter erhöhen Preise, kündigen, mal zu Unrecht, mal legal. Demnächst kommt die Gasumlage dazu, wenn sie denn wirklich kommt. Aber bei den Unternehmen, vor allem bei vielen Mittelständlern, ist die Lage schon jetzt dramatisch, existenziell. „Wir dürfen unsere mittelständischen Unternehmen nicht in den Ruin treiben“, sagte kürzlich ein Lokalpolitiker aus Osnabrück, der auch im Aufsichtsrat der dortigen Stadtwerke sitzt.

Die Stadtwerke Osnabrück hatten über 1000 Industriekunden, deren Stromverträge zum Jahresende auslaufen, keine Folgeverträge angeboten, ihnen also de facto gekündigt. Die Folge bei vielen: Verzweiflung: Mechthild Möllenkamp, etwa, die in Osnabrück fünf Edeka-Märkte betreibt, denkt sogar darüber nach, ihre Filialen zu schließen. Denn für sie würde ein Alternativstromvertrag mit zehnmal höheren Preisen bedeuten, dass sie jährlich eine Million Euro mehr für ihren Strom wuppen muss.

Das Problem: Zwar hat die Bundesregierung immer wieder Hilfen versprochen, Botschaft: Problem erkannt. Nur bisher ist von der Hilfe nicht viel bei den Unternehmen angekommen. Stattdessen staute sich der Frust – etwa als Robert Habeck, siehe „Maischberger“, sagte, dass Betriebe ja zwischenzeitlich aufhören könnten, zu produzieren. Und im dritten Entlastungspaket der Bundesregierung, dem mit den 65 Milliarden, fühlten sich Unternehmer und Einzelhändler vergessen. Am vergangenen Dienstag traf sich Habeck nun mit 40 Mittelstandsverbänden auf einem digitalen Gipfel.

Das Ergebnis: Energieintensive Unternehmen sollen Strom- und Gaszuschüsse aus dem Energiekostendämpfungsprogramm (EKDP) schneller und einfacher bekommen. Die Regierung hatte den Start des Programms schon Mitte Juli angekündigt. Bis zu 50 Millionen Euro für die gestiegenen Gas- und Stromkosten können bezuschusst werden – allerdings nur für den Zeitraum von Februar bis September. Das Programm war ursprünglich nur für die Industrie gedacht, nun will Habeck dabei auch Handwerk und Dienstleister einbeziehen. Und immerhin hat Kanzler Olaf Scholz nun eine Expertenkommission eingesetzt, die sich damit beschäftigen soll, wie die Politik die Energiekosten senken und Unternehmen und Bürgern helfen kann.

Expertenkommission, das hört sich nach viel Wissen an, aber wenig Tempo. Und dennoch, so das Versprechern, soll diese Kommission schnell zum Punkt kommen. Noch im Oktober soll es konkrete Vorschläge geben – die müssen dann bloß noch umgesetzt werden.

2. Was ist eigentlich bei den Stadtwerken los? 

Sie sind ein zentraler Baustein der Energieversorgung in Deutschland: die Stadtwerke, große und kleine. Und gerade in der Energiekrise spielen sie eine wichtige Rolle: Als Grundversorger springen sie bei Privathaushalten ein, sollten deren Versorger pleite gehen oder ihre Kunden mal eben rauswerfen, weil die Beschaffungskosten so immens hoch sind. Dann kommen die Stadtwerke ins Spiel, ihre Aufgabe ist die kommunale Daseinsvorsorge. Doch auch diese Stadtwerke haben mit den hohen Energiekosten zu kämpfen.

Und ihre Rolle in der Daseinsvorsorge könnte sie in Zukunft in eine schwierige Situation bringen: Lagen die Ausfallsquoten – also die Zahl derjenigen Privatpersonen, die ihre Strom- und Gasrechnungen ans Stadtwerk nicht zahlen konnten – früher im niedrigen einstelligen Prozentbereich, rechnet die Branche mittlerweile mit Zahlungsausfällen von zehn bis 15 Prozent. Einige Insider rechnen sogar mit Zahlungsausfällen von bis zu 30 Prozent. Wenn eine Vielzahl von Kunden, für die das Stadtwerk das Gas beschafft und bezahlt hat, das Stadtwerk nicht mehr bezahlt, dann wird es auch bei den Versorgern, die bisher wirtschaftlich gut dastehen, finanziell eng.

Und dann gibt es da noch die Stadtwerke, die in den letzten Jahren immer risikofreudiger gewirtschaftet haben, weil sich in Zeiten niedriger Energiepreise an den Spotmärkten gutes Geld verdienen ließ. Statt die Mengen an Strom und Gas, die ihre Privatkunden über die nächsten Jahren verbrauchen würden, langfristig im Voraus einzukaufen, wurden einige Stadtwerke gierig: Sie ließen einen Teil des erwarteten Bedarfs offen, um diesen dann am Spotmarkt (eigentlich) billig zu beschaffen, den Kunden aber zu den teureren, festgelegten Preisen weiterzuverkaufen. Am Spotmarkt kauft man Strom und Gas etwa für den nächsten Tag, die Lieferung erfolgt bald nach Bestellung. An den Terminmärkten wird der künftige Bedarf gehandelt, im nächsten oder sogar übernächsten Jahr etwa. Nur implodiert die bisherige Logik des Geschäfts am Spotmarkt gerade. Müssen Stadtwerke jetzt also kurzfristig am Spotmarkt Strom und Gas kaufen, dann wird das Geld schnell knapp.

Haben die Unternehmen dann noch viele Gewerbekunden im Portfolio, deren Verträge noch länger bestehen, und die große Mengen Strom und Gas benötigen, dann wird es noch schwieriger. Denn: Im Börsenhandel müssen Stadtwerke Sicherheitszahlungen hinterlegen, so genannte Margin Calls. Da die Preise steigen, müssen sie auch höhere Sicherheiten hinterlegen als früher – einige Stadtwerke kommen dabei schon jetzt an ihre Liquiditätsgrenze. In Leipzig etwa will die Stadt ihre Stadtwerke deshalb mit einem Kreditrahmen von 400 Millionen Euro stützen.

Aber brauchen die keinen Rettungsschirm, wenn die so wichtig sind? Bisher ist jedenfalls kein bundesweiter Schirm geplant – auch wenn die Rufe aus der Branche und auch aus der Landespolitik immer lauter werden. Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) fordert ihn schon seit Wochen, aber noch plant Robert Habeck nichts in diese Richtung. Doch ob einzelne Kommunen oder die Bundesländer womöglich nötige Stützen für ihre Stadtwerke auf Dauer stemmen können? Daran zweifeln einige Brancheninsider. Oder wie es kürzlich der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Berliner GASAG AG, Gerhard Holtmeier, im Interview mit der WirtschaftsWoche ausdrückte: „Auf uns rollt ein Tsunami zu.“

3. Berlin steigt ein. Gibt’s jetzt ein Staatswerk?

Das ist ja nicht neu: Kein Unternehmen steht so sehr für die deutsche Energiekrise wie Uniper. Jahrzehntelang haben dieser Gasimporteur und seine Vorläufer das Russlandgeschäft organisiert – und bestens daran verdient. Deswegen ist Uniper, das war schnell klar, auch wie kein anderes Unternehmen von dem Ausfall der russischen Lieferungen betroffen. Der Mechanismus ist dabei immer derselbe: Wo es laufende Verträge gibt, muss das Gas woanders beschafft werden. Dort ist’s sehr teuer, das treibt die Verluste.

Deshalb gab’s ein großes Aufatmen, als die Bundesregierung Ende Juli verkündete, bei Uniper einzusteigen, mit 30 Prozent, Kredite zu gewähren – und die Gasumlage auf den Weg zu bringen. Puh, gerettet. Von wegen. In den vergangenen Tagen ist bekannt geworden, dass die Verluste von Uniper unvorhersehbar groß werden, wachsen, explodieren. Da hilft auch der Löwenanteil aus dem Gasumlage-Topf in Höhe von in etwa 34 Milliarden Euro nichts. Deshalb erwägt die Bundesregierung jetzt ,nicht 30 Prozent zu übernehmen, sondern mehr, sogar die Mehrheit – und ist deshalb in Verhandlungen mit dem bisherigen Mehrheitseigner, dem finnischen Konzern Fortum, getreten, der wiederum mehrheitlich dem finnischen Staat gehört. Der Druck auf die dortige Ministerpräsidentin Sanna Marin ist groß, Fortum möglichst unbeschadet aus dem deutschen Schlamassel zu ziehen.

Es ist ein schwieriges Unterfangen. Anders als bei der Lufthansa, bei der die Bundesregierung eingestiegen ist, ist Unipers Geschäftsmodell – Gas-Deals mit Russland – de facto tot. Die Gewerkschaften dringen auf eine Übernahme der Mehrheit. Mit Fortum haben sie sich nie angefreundet – und sie warnen vor einer Zerschlagung des Unternehmens. Das Ergebnis der Verhandlungen dürfte demnächst publik werden. Klar ist, es wird für den deutschen Steuerzahler sehr, sehr teuer. Eine Gala wird es bei Uniper, anders als kürzlich noch in Mailand, vermutlich sehr, sehr lange nicht mehr geben.

Aber das war’s ja noch nicht mit der Einstiegs-Tour der Bundesregierung. Vor ein paar Tagen hat auch das Leipziger Unternehmen VNG, ein weiterer Gas-Importeur Staatshilfe beantragt. Auch hier wird die Bundesregierung bald Farbe bekennen müssen, wie viel ihr das Unternehmen wert ist, das gerade für die Versorgung in Ostdeutschland eine zentrale Rolle spielt. Und dann ist ja noch die Treuhandverwaltung von Gazprom Germania, der Gazprom Tochter, die heute Securing Energy for Europe heißt – durch die Bundesnetzagentur und, seit Freitag dieser Woche, die Treuhandverwaltung der deutschen Tochter des Öl-Konzerns Rosneft, ebenfalls durch die Bundesnetzagentur. Mit diesem Schritt sichert sich die Bundesregierung den Zugriff auf die für Berlin und Brandenburg so wichtige Raffinerie in Schwedt, kann die Versorgung mit Rohöl planen – und Arbeitsplätze sichern. Auch das wird in den nächsten Jahren viel Geld kosten, es ist eine Rettungsaktion der anderen Art.

4. Show me the money! Wo soll das Geld herkommen?

Das Retten von Staats wegen kostet Milliarde um Milliarde. Und auch das Entlasten ist teuer. Und weil die Begehrlichkeiten nun schon länger groß sind, an die satten Gewinne einiger Unternehmen in der Krise dran zu gehen, etwa von RWE, hat die EU-Kommission in der vergangenen Woche vorgestellt, wie sie den Großverdienern erhebliche Summen abknöpfen möchte. Die etwas krude Losung lautet „Inframarginal Price Cap“, bedeutet, dass es einen Deckel auf Gewinne gibt, die über 180 Euro für die Megawattstunde (MwH) Strom liegen. Wenn etwa ein Konzern Strom an den Spotmärkten für einen Preis von 200 Euro für die Megawattstunde erzielt, werden 20 Euro abgeschöpft.

Es ist ein Modell, das selbst Betroffene für machbar und umsetzbar halten, wenn auch mit Risiken. Denn so ganz genau weiß noch keiner, wie etwa die Anreize erhalten werden können, möglichst viel Strom zu verkaufen, wenn der Preis gedeckelt ist. Es gibt deshalb Ideen, das System ein wenig zu verändern, etwa Verkäufern auch an jedem über der Obergrenze liegenden Euro noch einen Anteil von zehn oder 20 oder 30 Prozent zuzugestehen, damit überhaupt eine Anreizstruktur erhalten werden kann. Es gibt weitere Fragen: Wie kann sichergestellt werden, dass diese Gewinndeckelung Investitionen, gerade in Erneuerbare Energien, nicht erstickt? Was genau geschieht mit direkt abgeschlossenen Verträgen? Wie wird sichergestellt, dass alte Verträge, die Gaspreise zu 40, 50, 60 Euro für die Megawattstunden festschreiben, nicht angetastet werden?

Die Erwartungen an dieses Abschöpfen der Zufallsgewinne sind groß, 140 Milliarden Euro erhofft sich Kommissionschefin Ursula von der Leyen, in Deutschland geht Finanzminister Christian Lindner von einem Plus von etwa zehn Milliarden Euro aus, die sollen dann auch wieder mit in das jüngste Entlastungspaket fließen. Aber, und auch das ist klar, diese Abgabe birgt, wie die Gas-Umlage auch, das Risiko erheblicher Fehler mit erheblichen Folgen. Sie mag aktuell ein Gerechtigkeitsbedürfnis befriedigen. Aber ob die Abgabe wirklich ein Erfolg werden kann, hängt sehr von Details der Umsetzung ab.

5. Was soll das jetzt mit der Raffinerie?

Strom ist derzeit ein Riesenthema, Gas quasi ein Dauerburner, aber seit dieser Woche ist auch wieder das Rohöl auf der Tagesordnung – nämlich dadurch, dass die Bundesregierung die deutsche Tochter des Ölkonzerns Rosneft der Treuhandverwaltung durch die Bundesnetzagentur unterstellt hat. Ab Ende des Jahres will Berlin darauf verzichten, Rohöl aus Russland zu beziehen. Daran hat Rosneft, der Mehrheitseigner der Raffinerie PCK in Schwedt in Brandenburg, freilich kein Interesse – und hat sich deshalb nicht um alternative Lieferwege gekümmert. Das soll jetzt der Treuhänder im Namen der Bundesregierung übernehmen.

Dabei kann ein guter Teil des Rohöls über den Hafen Rostock in Mecklenburg-Vorpommern geliefert werden. In den dortigen Ölhafen müssen dann Tanker fahren, das Öl wird dann über eine Pipeline von Rostock nach Schwedt in die Raffinerie transportiert. Wie wichtig diese Pipeline ist, hat die Bundesregierung jetzt erkannt. Man wolle sie unbedingt ertüchtigen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz am Freitag gesagt. Aber weil das nicht genug sein wird, soll künftig auch über den Hafen Danzig in Polen geliefert werden. Die Polen hatten sich nur dagegen gesträubt, ihre Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, solange Rosneft in Schwedt die herrschende Kraft ist. Das hat sich nun geändert.

Trotzdem bleibt die Logistik auch weiter eine Herausforderung. Die Binnenschifffahrt fällt hier aus, denn die Wasserstraßen etwa von Hamburg nach Schwedt sind für größere Binnenschiffe nur schwer zu befahren. Es gibt banale, aber unüberwindbare Hürden wie etwa Schleusen, die schlicht nicht groß genug sind. Bleibt der Transport über die Straße und – vor allem – über die Schiene. Wie aber gerade die Bahn noch mehr liefern soll, ist fraglich. Denn sie muss derzeit auch viel Kohle transportieren, vor allem jene Kohle, die wegen niedriger Pegelstände zuletzt nicht über den Rhein verschifft werden konnte. Das könnte, so die Hoffnung, demnächst nach Regenfällen besser werden.

Die wahren Kosten der Russland-Sanktionen

Putin hat eines seiner wichtigsten Kriegsziele erreicht, ohne eine Rakete abzuschießen. Mit den verhängten Wirtschaftssanktionen, schädigt sich der Westen selbst. Die Moral von der Geschicht: Emotionaler Aktivismus reißt die Wirtschaft in die Krise.  Zögern und Nachdenken, was man dem Kanzler Olaf Scholz nachsagt, gerät zur Tugend.

Ihr Jean Pütz

(Morning Briefing) – Die Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland haben (erwartungsgemäß) nicht den Krieg beendet, aber sie haben erstens Putin und zweitens dem Westen selbst einen schweren ökonomischen Schlag verpasst. Die unbequeme Wahrheit ist diese: Man zielte auf Russland und hat dabei auch sich selbst ins Knie geschossen.

Im Grunde war alles, was jetzt passiert, ökonomisch vorhersehbar: In einer Welt der freien Warenströme und der Geschäftsbeziehungen zum gegenseitigen Vorteil kann kein Partner sich einseitig zurückziehen, ohne zugleich sich massiv selbst zu schaden.

Politiker, die den schnellen politischen Effekt wollten – um damit weniger Putin, als vielmehr ihre Wähler zu beeindrucken – haben damit ihre eigenen Volkswirtschaften unter Stress gesetzt. Weltweit – und eben nicht nur in Russland – reagiert die Wirtschaft mit Fieberschüben und Schüttelfrost.