Deutschland auf dem Weg zum Abgrund

(Wirtschaftswoche) – Mit den Meldungen zur Energieversorgung ist es derzeit, als ob man am Bahnsteig steht, und dann rauscht der ICE durch, direkt vorm Gesicht. Laut, schnell, scheinbar endlos. Nehmen Sie allein die vergangenen zwei Wochen: Das Rettungspaket über 65 Milliarden Euro, Robert Habecks Stresstest in der Nuklearsache, der GAU für den Minister allerdings in der Bäckerfrage bei „Maischberger“. Der Gas-Importeur VNG bittet übrigens um Staatshilfe, nach Paragraf 29 Energiesicherungsgesetz. Die Stadtwerke schlagen Alarm, der Mittelstand auch. Da muss doch ein Rettungssch … aber halt: erst mal Uniper retten, die Regierung soll jetzt doch die Mehrheit übernehmen. Notwendig, oder? Aber ist die Zufallsgewinnsteuer auch notwendig, die gerade in Brüssel vorgestellt wird? Funktioniert das? Oder muss doch erst klargemacht werden, dass die Öl-Raffinerie, Sie ahnen es, in Schwedt gesichert wird? Und wie kann es sein, dass jetzt selbst E.On Kunden rauswirft? Was kommt da noch?

Weil selbst uns da bisweilen etwas der Kopf schwirrt, versuchen wir hier, die vergangenen Tage ein wenig zu sortieren, auch uns zu orientieren – und beantworten fünf Fragen, die uns in den vergangenen Tagen besonders wichtig erscheinen.

1. Und wer rettet den Mittelstand? 

Viel wird berichtet, auch von uns, über die Notlage von Verbrauchern. Gas? Strom? Die Preise steigen, Anbieter erhöhen Preise, kündigen, mal zu Unrecht, mal legal. Demnächst kommt die Gasumlage dazu, wenn sie denn wirklich kommt. Aber bei den Unternehmen, vor allem bei vielen Mittelständlern, ist die Lage schon jetzt dramatisch, existenziell. „Wir dürfen unsere mittelständischen Unternehmen nicht in den Ruin treiben“, sagte kürzlich ein Lokalpolitiker aus Osnabrück, der auch im Aufsichtsrat der dortigen Stadtwerke sitzt.

Die Stadtwerke Osnabrück hatten über 1000 Industriekunden, deren Stromverträge zum Jahresende auslaufen, keine Folgeverträge angeboten, ihnen also de facto gekündigt. Die Folge bei vielen: Verzweiflung: Mechthild Möllenkamp, etwa, die in Osnabrück fünf Edeka-Märkte betreibt, denkt sogar darüber nach, ihre Filialen zu schließen. Denn für sie würde ein Alternativstromvertrag mit zehnmal höheren Preisen bedeuten, dass sie jährlich eine Million Euro mehr für ihren Strom wuppen muss.

Das Problem: Zwar hat die Bundesregierung immer wieder Hilfen versprochen, Botschaft: Problem erkannt. Nur bisher ist von der Hilfe nicht viel bei den Unternehmen angekommen. Stattdessen staute sich der Frust – etwa als Robert Habeck, siehe „Maischberger“, sagte, dass Betriebe ja zwischenzeitlich aufhören könnten, zu produzieren. Und im dritten Entlastungspaket der Bundesregierung, dem mit den 65 Milliarden, fühlten sich Unternehmer und Einzelhändler vergessen. Am vergangenen Dienstag traf sich Habeck nun mit 40 Mittelstandsverbänden auf einem digitalen Gipfel.

Das Ergebnis: Energieintensive Unternehmen sollen Strom- und Gaszuschüsse aus dem Energiekostendämpfungsprogramm (EKDP) schneller und einfacher bekommen. Die Regierung hatte den Start des Programms schon Mitte Juli angekündigt. Bis zu 50 Millionen Euro für die gestiegenen Gas- und Stromkosten können bezuschusst werden – allerdings nur für den Zeitraum von Februar bis September. Das Programm war ursprünglich nur für die Industrie gedacht, nun will Habeck dabei auch Handwerk und Dienstleister einbeziehen. Und immerhin hat Kanzler Olaf Scholz nun eine Expertenkommission eingesetzt, die sich damit beschäftigen soll, wie die Politik die Energiekosten senken und Unternehmen und Bürgern helfen kann.

Expertenkommission, das hört sich nach viel Wissen an, aber wenig Tempo. Und dennoch, so das Versprechern, soll diese Kommission schnell zum Punkt kommen. Noch im Oktober soll es konkrete Vorschläge geben – die müssen dann bloß noch umgesetzt werden.

2. Was ist eigentlich bei den Stadtwerken los? 

Sie sind ein zentraler Baustein der Energieversorgung in Deutschland: die Stadtwerke, große und kleine. Und gerade in der Energiekrise spielen sie eine wichtige Rolle: Als Grundversorger springen sie bei Privathaushalten ein, sollten deren Versorger pleite gehen oder ihre Kunden mal eben rauswerfen, weil die Beschaffungskosten so immens hoch sind. Dann kommen die Stadtwerke ins Spiel, ihre Aufgabe ist die kommunale Daseinsvorsorge. Doch auch diese Stadtwerke haben mit den hohen Energiekosten zu kämpfen.

Und ihre Rolle in der Daseinsvorsorge könnte sie in Zukunft in eine schwierige Situation bringen: Lagen die Ausfallsquoten – also die Zahl derjenigen Privatpersonen, die ihre Strom- und Gasrechnungen ans Stadtwerk nicht zahlen konnten – früher im niedrigen einstelligen Prozentbereich, rechnet die Branche mittlerweile mit Zahlungsausfällen von zehn bis 15 Prozent. Einige Insider rechnen sogar mit Zahlungsausfällen von bis zu 30 Prozent. Wenn eine Vielzahl von Kunden, für die das Stadtwerk das Gas beschafft und bezahlt hat, das Stadtwerk nicht mehr bezahlt, dann wird es auch bei den Versorgern, die bisher wirtschaftlich gut dastehen, finanziell eng.

Und dann gibt es da noch die Stadtwerke, die in den letzten Jahren immer risikofreudiger gewirtschaftet haben, weil sich in Zeiten niedriger Energiepreise an den Spotmärkten gutes Geld verdienen ließ. Statt die Mengen an Strom und Gas, die ihre Privatkunden über die nächsten Jahren verbrauchen würden, langfristig im Voraus einzukaufen, wurden einige Stadtwerke gierig: Sie ließen einen Teil des erwarteten Bedarfs offen, um diesen dann am Spotmarkt (eigentlich) billig zu beschaffen, den Kunden aber zu den teureren, festgelegten Preisen weiterzuverkaufen. Am Spotmarkt kauft man Strom und Gas etwa für den nächsten Tag, die Lieferung erfolgt bald nach Bestellung. An den Terminmärkten wird der künftige Bedarf gehandelt, im nächsten oder sogar übernächsten Jahr etwa. Nur implodiert die bisherige Logik des Geschäfts am Spotmarkt gerade. Müssen Stadtwerke jetzt also kurzfristig am Spotmarkt Strom und Gas kaufen, dann wird das Geld schnell knapp.

Haben die Unternehmen dann noch viele Gewerbekunden im Portfolio, deren Verträge noch länger bestehen, und die große Mengen Strom und Gas benötigen, dann wird es noch schwieriger. Denn: Im Börsenhandel müssen Stadtwerke Sicherheitszahlungen hinterlegen, so genannte Margin Calls. Da die Preise steigen, müssen sie auch höhere Sicherheiten hinterlegen als früher – einige Stadtwerke kommen dabei schon jetzt an ihre Liquiditätsgrenze. In Leipzig etwa will die Stadt ihre Stadtwerke deshalb mit einem Kreditrahmen von 400 Millionen Euro stützen.

Aber brauchen die keinen Rettungsschirm, wenn die so wichtig sind? Bisher ist jedenfalls kein bundesweiter Schirm geplant – auch wenn die Rufe aus der Branche und auch aus der Landespolitik immer lauter werden. Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) fordert ihn schon seit Wochen, aber noch plant Robert Habeck nichts in diese Richtung. Doch ob einzelne Kommunen oder die Bundesländer womöglich nötige Stützen für ihre Stadtwerke auf Dauer stemmen können? Daran zweifeln einige Brancheninsider. Oder wie es kürzlich der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Berliner GASAG AG, Gerhard Holtmeier, im Interview mit der WirtschaftsWoche ausdrückte: „Auf uns rollt ein Tsunami zu.“

3. Berlin steigt ein. Gibt’s jetzt ein Staatswerk?

Das ist ja nicht neu: Kein Unternehmen steht so sehr für die deutsche Energiekrise wie Uniper. Jahrzehntelang haben dieser Gasimporteur und seine Vorläufer das Russlandgeschäft organisiert – und bestens daran verdient. Deswegen ist Uniper, das war schnell klar, auch wie kein anderes Unternehmen von dem Ausfall der russischen Lieferungen betroffen. Der Mechanismus ist dabei immer derselbe: Wo es laufende Verträge gibt, muss das Gas woanders beschafft werden. Dort ist’s sehr teuer, das treibt die Verluste.

Deshalb gab’s ein großes Aufatmen, als die Bundesregierung Ende Juli verkündete, bei Uniper einzusteigen, mit 30 Prozent, Kredite zu gewähren – und die Gasumlage auf den Weg zu bringen. Puh, gerettet. Von wegen. In den vergangenen Tagen ist bekannt geworden, dass die Verluste von Uniper unvorhersehbar groß werden, wachsen, explodieren. Da hilft auch der Löwenanteil aus dem Gasumlage-Topf in Höhe von in etwa 34 Milliarden Euro nichts. Deshalb erwägt die Bundesregierung jetzt ,nicht 30 Prozent zu übernehmen, sondern mehr, sogar die Mehrheit – und ist deshalb in Verhandlungen mit dem bisherigen Mehrheitseigner, dem finnischen Konzern Fortum, getreten, der wiederum mehrheitlich dem finnischen Staat gehört. Der Druck auf die dortige Ministerpräsidentin Sanna Marin ist groß, Fortum möglichst unbeschadet aus dem deutschen Schlamassel zu ziehen.

Es ist ein schwieriges Unterfangen. Anders als bei der Lufthansa, bei der die Bundesregierung eingestiegen ist, ist Unipers Geschäftsmodell – Gas-Deals mit Russland – de facto tot. Die Gewerkschaften dringen auf eine Übernahme der Mehrheit. Mit Fortum haben sie sich nie angefreundet – und sie warnen vor einer Zerschlagung des Unternehmens. Das Ergebnis der Verhandlungen dürfte demnächst publik werden. Klar ist, es wird für den deutschen Steuerzahler sehr, sehr teuer. Eine Gala wird es bei Uniper, anders als kürzlich noch in Mailand, vermutlich sehr, sehr lange nicht mehr geben.

Aber das war’s ja noch nicht mit der Einstiegs-Tour der Bundesregierung. Vor ein paar Tagen hat auch das Leipziger Unternehmen VNG, ein weiterer Gas-Importeur Staatshilfe beantragt. Auch hier wird die Bundesregierung bald Farbe bekennen müssen, wie viel ihr das Unternehmen wert ist, das gerade für die Versorgung in Ostdeutschland eine zentrale Rolle spielt. Und dann ist ja noch die Treuhandverwaltung von Gazprom Germania, der Gazprom Tochter, die heute Securing Energy for Europe heißt – durch die Bundesnetzagentur und, seit Freitag dieser Woche, die Treuhandverwaltung der deutschen Tochter des Öl-Konzerns Rosneft, ebenfalls durch die Bundesnetzagentur. Mit diesem Schritt sichert sich die Bundesregierung den Zugriff auf die für Berlin und Brandenburg so wichtige Raffinerie in Schwedt, kann die Versorgung mit Rohöl planen – und Arbeitsplätze sichern. Auch das wird in den nächsten Jahren viel Geld kosten, es ist eine Rettungsaktion der anderen Art.

4. Show me the money! Wo soll das Geld herkommen?

Das Retten von Staats wegen kostet Milliarde um Milliarde. Und auch das Entlasten ist teuer. Und weil die Begehrlichkeiten nun schon länger groß sind, an die satten Gewinne einiger Unternehmen in der Krise dran zu gehen, etwa von RWE, hat die EU-Kommission in der vergangenen Woche vorgestellt, wie sie den Großverdienern erhebliche Summen abknöpfen möchte. Die etwas krude Losung lautet „Inframarginal Price Cap“, bedeutet, dass es einen Deckel auf Gewinne gibt, die über 180 Euro für die Megawattstunde (MwH) Strom liegen. Wenn etwa ein Konzern Strom an den Spotmärkten für einen Preis von 200 Euro für die Megawattstunde erzielt, werden 20 Euro abgeschöpft.

Es ist ein Modell, das selbst Betroffene für machbar und umsetzbar halten, wenn auch mit Risiken. Denn so ganz genau weiß noch keiner, wie etwa die Anreize erhalten werden können, möglichst viel Strom zu verkaufen, wenn der Preis gedeckelt ist. Es gibt deshalb Ideen, das System ein wenig zu verändern, etwa Verkäufern auch an jedem über der Obergrenze liegenden Euro noch einen Anteil von zehn oder 20 oder 30 Prozent zuzugestehen, damit überhaupt eine Anreizstruktur erhalten werden kann. Es gibt weitere Fragen: Wie kann sichergestellt werden, dass diese Gewinndeckelung Investitionen, gerade in Erneuerbare Energien, nicht erstickt? Was genau geschieht mit direkt abgeschlossenen Verträgen? Wie wird sichergestellt, dass alte Verträge, die Gaspreise zu 40, 50, 60 Euro für die Megawattstunden festschreiben, nicht angetastet werden?

Die Erwartungen an dieses Abschöpfen der Zufallsgewinne sind groß, 140 Milliarden Euro erhofft sich Kommissionschefin Ursula von der Leyen, in Deutschland geht Finanzminister Christian Lindner von einem Plus von etwa zehn Milliarden Euro aus, die sollen dann auch wieder mit in das jüngste Entlastungspaket fließen. Aber, und auch das ist klar, diese Abgabe birgt, wie die Gas-Umlage auch, das Risiko erheblicher Fehler mit erheblichen Folgen. Sie mag aktuell ein Gerechtigkeitsbedürfnis befriedigen. Aber ob die Abgabe wirklich ein Erfolg werden kann, hängt sehr von Details der Umsetzung ab.

5. Was soll das jetzt mit der Raffinerie?

Strom ist derzeit ein Riesenthema, Gas quasi ein Dauerburner, aber seit dieser Woche ist auch wieder das Rohöl auf der Tagesordnung – nämlich dadurch, dass die Bundesregierung die deutsche Tochter des Ölkonzerns Rosneft der Treuhandverwaltung durch die Bundesnetzagentur unterstellt hat. Ab Ende des Jahres will Berlin darauf verzichten, Rohöl aus Russland zu beziehen. Daran hat Rosneft, der Mehrheitseigner der Raffinerie PCK in Schwedt in Brandenburg, freilich kein Interesse – und hat sich deshalb nicht um alternative Lieferwege gekümmert. Das soll jetzt der Treuhänder im Namen der Bundesregierung übernehmen.

Dabei kann ein guter Teil des Rohöls über den Hafen Rostock in Mecklenburg-Vorpommern geliefert werden. In den dortigen Ölhafen müssen dann Tanker fahren, das Öl wird dann über eine Pipeline von Rostock nach Schwedt in die Raffinerie transportiert. Wie wichtig diese Pipeline ist, hat die Bundesregierung jetzt erkannt. Man wolle sie unbedingt ertüchtigen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz am Freitag gesagt. Aber weil das nicht genug sein wird, soll künftig auch über den Hafen Danzig in Polen geliefert werden. Die Polen hatten sich nur dagegen gesträubt, ihre Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, solange Rosneft in Schwedt die herrschende Kraft ist. Das hat sich nun geändert.

Trotzdem bleibt die Logistik auch weiter eine Herausforderung. Die Binnenschifffahrt fällt hier aus, denn die Wasserstraßen etwa von Hamburg nach Schwedt sind für größere Binnenschiffe nur schwer zu befahren. Es gibt banale, aber unüberwindbare Hürden wie etwa Schleusen, die schlicht nicht groß genug sind. Bleibt der Transport über die Straße und – vor allem – über die Schiene. Wie aber gerade die Bahn noch mehr liefern soll, ist fraglich. Denn sie muss derzeit auch viel Kohle transportieren, vor allem jene Kohle, die wegen niedriger Pegelstände zuletzt nicht über den Rhein verschifft werden konnte. Das könnte, so die Hoffnung, demnächst nach Regenfällen besser werden.