Industrie verabschiedet sich von Deutschland

(Pioneer Briefing) – Im Fernsehen ist viel die Rede von einer Willkommenskultur. Doch im wahren Leben der deutschen Industrie entwickelt sich eine Abschiedskultur. Es sind viele leise Abschiede, die in diesen Tagen begangen werden. Zum Requiem erscheinen keine Politiker und keine Pfarrer. Es wird nicht geweint und nicht gesprochen. Die meisten, die gehen, gehen stumm.

Nach dem Massensterben der deutschen Textilindustrie, bei dem fast eine halbe Million Jobs verloren gingen, der Verlagerung der großen Werften und den Konkursen von Bremer Vulkan und anderen, dem Zechensterben im Ruhrgebiet und dem Schrumpfungsprozess in der Stahlindustrie hat die nächste große Welle das Land erfasst, die zur Vernichtung von Wohlstand und Arbeitsplätzen führen wird.

Es sind im wesentlichen drei Gründe, die dieses neuerliche Firmensterben oder die Abwanderung von Produktion ausgelöst haben:

1. Der Energiepreisschock

Holger Loclair macht sich Sorgen um sein Familienunternehmen Orafol mit Sitz im brandenburgischen Oranienburg. Denn er verbraucht rund 32.000 Kubikmeter Gas pro Tag – rund 16-mal so viel wie ein Durchschnittshaushalt im Jahr. Aufgrund des enormen Kostenschubs will er einen Teil der Produktion für hochwertige

Der Mann ist das Rollenmodell der neuen deutschen Auswanderungswelle. 17 Prozent der Firmen wollen laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) ihre inländische Produktion wegen der hohen Energiepreise zurückfahren, acht Prozent die Produktion verlagern. DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben ist kein Apokalyptiker, aber er sagt:

Auch Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), warnt vor einer schleichenden Deindustrialisierung. Der Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung in Deutschland ist seit 2016 von 25,9 auf 23,4 Prozent gefallen – „eine besorgniserregende Entwicklung“.

2. Die Forschungsbürokratie

Die europäische Neigung zur politischen Regulierung – die getrieben wird von der Angst vor Risiken – treibt insbesondere forschungsintensive Firmen ins Ausland. In den Vorstandsetagen wird nicht mehr gezetert, es wird verlagert. So liegt die Zukunft des Arzneimittelgeschäfts für die Bayer AG in den USA und in China, anstatt in Europa. Stefan Oelrich, Leiter des Pharmageschäfts bei Bayer, sagt:

Auch der Impfstoffentwickler BioNTech denkt neu. Das Pharmaunternehmen aus Mainz gilt als deutsche Erfolgsgeschichte, binnen eines Jahres entwickelten die Gründer Uğur Şahin und Özlem Türeci einen Corona-Impfstoff – und wurden für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Doch wichtige Teile der Krebsforschung des Unternehmens werden bald nach Großbritannien umziehen, berichtete gestern zuerst die BILD-Zeitung. Türeci erklärt:

3. Die amerikanische Versuchung

Die USA drängen und locken immer mehr deutsche Unternehmen zur Verlagerung von Produktion. Neben der Marktnähe und der Minimierung von Währungsrisiken sind die niedrigen Energiepreise und die ausgelobten Subventionen zum Faktor der transatlantischen Verlagerung geworden.

Vor der kalifornischen Westküste werden bald RWE Windkraftwerke am Horizont auftauchen. Ende des vergangenen Jahres sicherte sich der Essener Energiekonzern die Rechte für einen Windpark, der 640.000 US-Haushalte mit erneuerbarer Energie versorgen soll.

RWE ist der amerikanischen Versuchung erlegen. Für Offshore-Windanlagen gibt es bis zu 30 Prozent Steuergutschriften im Rahmen des Inflation Reduction Acts. Insgesamt sind rund 370 Milliarden US-Dollar Subventionen für die Energiebranche und den Klimaschutz vorgesehen. Es gibt kein energieintensives deutsches Unternehmen, das nicht intern die Chancen dieser Anlock-Prämie für sich taxiert.