Wie die Kultur das Schmerzempfinden beeinflusst
fzm, Stuttgart, April 2017 – Wie Schmerzen
empfunden werden, wie mit ihnen umgegangen wird und welche Bedeutung man
ihnen beimisst – das ist auch eine Frage der kulturellen Prägung.
Gerade in der Schmerztherapie von Migranten kommt es daher immer wieder
zu kulturbedingten Missverständnissen. Aus dieser Erfahrung heraus haben
Psychologen der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität am Klinikum
Nürnberg ein Programm zur Schmerzbewältigung entwickelt, das speziell
auf die Bedürfnisse türkischer Frauen zugeschnitten ist. In der
Fachzeitschrift „PiD Psychotherapie im Dialog“ (Georg Thieme Verlag,
Stuttgart. 2016) stellt Sandra Venkat, leitende Psychologin der
Nürnberger Schmerztagesklinik, das Konzept vor.
Chronische Schmerzen treten bei Migrantinnen deutlich
häufiger auf als bei nicht migrierten Frauen. Laut Sandra Venkat hängt
das mit den besonderen psychischen Belastungen und über Jahre
erforderlichen Anpassungsleistungen zusammen, die eine Migration mit
sich bringt. „Stressfaktoren wie Trennungs- oder Verlusterlebnisse,
beengte Wohnverhältnisse, Armut oder oftmals geleistete Akkordarbeit
können wesentlich dazu beitragen, dass Schmerzen chronisch werden“,
erklärt sie.
Der in der westlich medizinischen Welt vertretene
Zusammenhang zwischen Psyche und Schmerz ist islamischen Frauen
allerdings unvertraut. „In der Regel verstehen sie die Schmerzen als
Ausdruck körperlicher Probleme oder als Prüfung von Allah, die man
erdulden muss“, erläutert die Nürnberger Psychologin. Beide
Erklärungsmodelle führten jedoch zu einer passiven Haltung, die die
Verantwortung für eine Besserung bei Ärzten und Behandlern oder bei
Allah sieht. Das Nürnberger Behandlungsmodell greift daher neben
kulturellen Gegebenheiten die wichtige Ressource der Religion auf und
nutzt sie, um die Patientinnen zum aktiven Mitmachen anzuregen. Denn der
Koran fordert dazu auf, den eigenen Körper zu schützen.
Damit die Patientinnen ihre Genesung in die eigenen Hände
nehmen, ist es nach Venkats Erfahrung auch wichtig, den Frauen ihre
Stärken und Ressourcen bewusst zu machen. In ihrem Leben mussten sie oft
ihre Ausdauer, Flexibilität oder Kreativität unter Beweis stellen. Auch
ein großes soziales Netzwerk ist eine wertvolle Ressource. „Im Rahmen
der Therapie sollen sich die Frauen nicht nur an Belastungen und
Verluste erinnern, sondern auch an das, was sie bereits geleistet haben
und daran, welche Möglichkeiten sie hinzugewonnen haben“, sagt Venkat.
Sobald sie sich dessen bewusst werden, könnten sie sich Schritt für
Schritt aus der Opferhaltung befreien und sich selbst als stark und
tapfer wahrnehmen. Das fördert hinsichtlich der Schmerzbewältigung auch
die Selbstwirksamkeit der Frauen, das heißt, der Glaube daran, selbst
etwas bewirken zu können – auch in schwierigen Situationen.
Darüber hinaus stellt die Autorin fest, dass der Schmerz im
islamischen Kulturkreis eine stärkere emotionale und
sozial-kommunikative Komponente hat als hierzulande. So haben
Patientinnen das Bedürfnis sehr ausführlich über ihre Beschwerden zu
sprechen. Vom Gegenüber wird das hier oft als Wehleidigkeit
fehlinterpretiert. Die Würdigung des dahinter liegenden „seelischen
Schmerzes“ ist oftmals ein zentraler Wendepunkt in der Interaktion und
Behandlung. Wichtig sei es auch, den Frauen einfühlsam und mit
menschlicher Wärme zu begegnen. Sie fühlen sich dort gut aufgehoben, wo
sie freundlich und wertschätzend behandelt werden. Wissenschaftliche
Erklärungen oder moderne Diagnostik- und Therapieansätze sind für sie
zweitrangig. Oder wie eine Patientin es ausdrückte: „Die Behandlung muss
schmecken, sie muss Spaß machen, man muss mit dem Herzen dabei sein.“
S. Venkat et al.: