Ein bemerkenswerter Text zum Zeitgeist 2022

(Morning Briefing) – Wir erleben in diesen Tagen einen Rückruf in die Geschichte: Eine alte Öl- und Militärmacht greift den Westen an und katapultiert ihn binnen weniger Tage zurück in seine eigene Vergangenheit – eine Welt, in der die Leopard-Panzer rollen, das fliegende Lazarett abhebt und der Krieg in Großbuchstaben auf Seite eins der Zeitungen steht.

Das Modewort der Saison heißt nicht mehr Nachhaltigkeit, sondern NATO. Aus den Lautsprechern dringt jetzt nicht mehr Hip-Hop, sondern leichte Marschmusik.

Der Kern vom Kern unseres Unbehagens an dieser Moderne, die so gar nicht modern wirkt, ist ein philosophischer. Mit Fug und Recht darf man sich die Frage stellen: Gibt es überhaupt Fortschritt?

Die kurze Antwort lautet: Im Moment nicht. Die längere Antwort lautet: Ja, aber anders als wir dachten.

Wir träumten von Frieden, Dialog und Interessenausgleich. Aber die Herrscher in weiten Teilen der Welt und die mit ihnen eng verbundene Rüstungsindustrie träumen einen anderen Traum. Wir sind gerade aus unserem Traum aufgewacht und in ihrem gelandet.

Geradezu panikartig erhöhen wir unsere Versicherungsprämie für die nationale Sicherheit, was nichts anderes bedeutet, als dass wir verstärkt mit den alten Mächten paktieren. 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr, das fünffache dessen, was der Ministerin für Bildung und Forschung zur Verfügung steht. Kein Wunder: Die Rüstungsaktien (und nicht die Hersteller von Solaranlagen und Windparks) sind die Gewinner der Saison.

Die Demokratie erlebt ihren Siegeszug auf der ganzen Welt. Das ist das, was wir hofften. Aber das ist nicht das, was wir sehen. Die Autokratien wachsen und sie halten zusammen. Die Taliban haben eben erst den Westen aus Afghanistan vertrieben. Im UN-Sicherheitsrat wurde der Angriff von Russland auf die Ukraine von elf der 15 Länder verurteilt, Russland stimmte erwartungsgemäß dagegen, China, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate enthielten sich.

Die fossilen Brennstoffe seien ein Auslaufmodell und die Ölkonzerne die Dinosaurier der Moderne. Das ist das, was man uns erzählt hat.

Der Blick auf die Performance der Öl- und Gaskonzerne und ihre Wertpapiere malt ein anderes Bild: Die fünf Branchengrößen Exxon Mobil, Chevron, Shell, BP und Total Energies melden die höchsten Gewinne seit sieben Jahren. Das Nettoergebnis von „Big Oil“ lag im vergangenen Jahr bei fast 90 Milliarden Dollar.

Wenn wir im derzeitigen Tempo die fossilen Rohstoffe weiter ausbeuten, sagt eine Studie der TU München, können wir uns noch 100 Jahre an Mutter Erde schadlos halten. Das bedeutet: Das Ende des Öl-Zeitalters kommt. Aber nicht mal mehr zu Lebzeiten unserer Enkelkinder.

Die Hoffnung war diese: Im Internet-Zeitalter kann man sich digital austauschen und demnächst auch in 3D im Metaverse. Diese Entwicklung werde die Fortbewegung mit Auto, Bahn und Flugzeug disruptieren, sprich limitieren. Die Welt erblüht klimaneutral.

Die Wahrheit ist: Der Autoverkehr und der Flugverkehr erleben einen nicht enden wollenden Boom. 2019 wurden 8,5 Milliarden Personenkilometer in der Luft zurückgelegt. Die Prognosen von Boeing gehen davon aus, dass sich diese Kapazität bis 2040 auf fast 20 Milliarden Personenkilometer mehr als verdoppeln wird.

Und was wurde für die Welt des Geldes nicht alles geweissagt? Neue, dezentrale Währungen würden den Dollar, den Euro und den Yen ablösen, hieß es in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen. Und richtig ist: Der Bitcoin und die Blockchain-Technologie beherrschen die großen Kongresse. Doch in Wahrheit ist die Dollardominanz ungebrochen. Amerika denkt nicht daran, seine stärkste Waffe aus der Hand zu legen. „Der Bitcoin ist wie eine Geschlechtskrankheit und muss besiegt werden,“ sagte erst kürzlich Charlie Munger, der Stellvertreter von Warren Buffett.

Die Auflistung dieser Irrtümer, die auch dann Irrtümer bleiben, wenn sie populär sind, sollte uns nicht mutlos, wohl aber realistisch stimmen. Die Welt bewegt sich. Es gibt ihn, diesen geheimnisvollen inneren Motor. Die Geschichte der Menschheit ist eine Fortschrittsgeschichte.

Aber: Die alte Welt ist wehrhafter als wir bisher gedacht hatten. Womöglich ist Putins Invasion nur das Wetterleuchten einer Übergangszeit, in der die Jahrhunderte sich nicht nur berühren, sondern ineinander verkeilen.

Die Moderne kommt. Aber die Vergangenheit will nicht vergehen. Und wenn sie vergeht, dann auf keinen Fall kampflos. Wir sind Zeitzeugen einer historischen Auseinandersetzung, die auf mehreren Plätzen gleichzeitig ausgefochten wird: Die Vergangenheit hat die Moderne zum Duell herausgefordert.