Wie sich Verschwörungstheorien immer mehr verbreiten und zur Gefahr werden

(NDR) – Bei Telegram treffen verunsicherte Menschen auf Verschwörungstheoretiker, Weltuntergangspropheten und Rechtsextreme. Viele radikalisierten sich in der Corona-Krise – das zeigt eine Analyse von NDR und SZ.

Bettina Bauernfeind ist Diplom-Betriebswirtin, sie ernährt sich vegetarisch, macht viel Sport und hat bei der letzten Wahl die Grünen gewählt. Es scheint so, als stehe die Frau aus Bad Segeberg mitten im Leben. Auf die Maskenpflicht in Corona-Zeiten darf man sie allerdings nicht ansprechen. Das sei ein Instrument der Unterdrückung, sagt sie empört: „Jetzt sind wir alle kurz vor dem Untergang. Ich sage, dass der Plan ist, sieben Milliarden Menschen zu ermorden.“ Dahinter steckten „Bill Gates und seine Kumpanen“, und wenn es Gates nicht gelinge, alle umzubringen, so sollten sie doch zumindest dahinvegetieren.

Um zu verstehen, was mit Bauernfeind passiert ist, muss man in jene digitale Welt eintauchen, in der sie sich in den vergangenen Monaten oft aufgehalten hat: im Messengerdienst Telegram, einer App, die sich jeder kostenlos auf sein Smartphone laden kann. Der NDR und die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) haben wochenlang mehr als tausend Gruppen und Kanäle bei Telegram beobachtet, die sich deutschlandweit seit Anfang März gebildet hatten.

Aus Verunsicherung wurde Wut
Erst ging es oft schlicht darum, sich zu Demos zu verabreden. Aber Unverständnis und Verunsicherung wurden zu Empörung und dann zu Wut. Die Stimmung kippte, und mittlerweile haben in den Gruppen diejenigen das Sagen, die diesen Staat und die Ordnung des Grundgesetzes ablehnen, ja verachten.

Menschen wie Bauernfeind trafen bei Telegram auf Rechtsextreme, Weltuntergangspropheten und Verschwörungsmystiker, was bei ihr und den anderen offenbar Spuren hinterließ. Sie selbst sei zunächst bei Facebook gewesen: „Dann wurde Facebook immer mehr zensiert. Da hieß es, Telegram ist eine Alternative – und dann zack alle rüber zu Telegram.“

Kein Widerspruch, keine Faktenchecks
Von den insgesamt mehr als 100.000 Menschen, die in den von „SZ und NDR analysierten Corona-Gruppen schreiben, waren zwei Drittel zuvor nicht bei Telegram, und viele hatten von den dort kursierenden kruden Theorien wohl noch nie etwas gehört. Gut jeder Fünfte dieser Telegram-Neulinge wechselte im Laufe der Monate in andere Gruppen und schreibt seither dort weiter. Darunter sind solche, in denen es nur um Verschwörungsmythen geht, aber auch klar rechtsextreme Gruppen. Im schlimmsten Fall landen Nutzer dort, wo mittlerweile auch dazu aufgerufen wird, sich zu bewaffnen.

Der Politikwissenschaftler Josef Holnburger hat diese Telegram-Daten systematisch gesammelt und beiden Medien zur Verfügung gestellt. Er sieht kritisch, dass bei dem Messengerdienst niemand mit widersprechenden Meinungen konfrontiert werde und dass Behauptungen nicht überprüft würden, wie es beispielsweise Facebook und Twitter inzwischen tun. Es gebe bei Telegram lediglich „eine Berieselung mit Verschwörungserzählungen“, sagt Holnburger. „Deshalb stellen wir dort eine starke Radikalisierung fest, die wir so auf anderen Kanälen noch nicht gesehen haben.“

Ohnmachtsgefühle erhöhen Glaube an krude Theorien
„Telegram hat eine besondere Funktion“, sagt die Mainzer Sozialpsychologin Pia Lamberty, die sich seit Jahren mit Verschwörungstheorien beschäftigt. Wenn solche Mythen in einem Messengerdienst zwischen Nachrichten vom Partner oder der Familie auftauchten, dann wirkten sie viel überzeugender – noch dazu in dieser Zeit der Corona-Pandemie.

„Aus der Forschung wissen wir, dass in Situationen, die einen Kontrollverlust und Ohnmachtsgefühle hervorrufen, Menschen stärker an Verschwörungen glauben“, sagt Lamberty. „Dass sie versuchen, lose Enden zu Mustern zu verbinden, um eben diesen Kontrollverlust zu kompensieren.“

Einen solchen Kontrollverlust erfährt auch die Segebergerin Bauernfeind – jeden Tag. „Wenn ich auf die Straße gehe, sehe ich nur Maskenträger. Das sind Seelenlose.“ Es fühle sich für sie an wie ein „Planet der Zombies“. Erkannt hätten das aber nur Menschen wie sie, die offen darüber sprechen – in den Gruppen des Messengerdienstes Telegram.