Trumpismus ohne Trump ?

Anbei ein Auszug aus „Morning Briefing“ von Gabor Steingart, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:

(Morning Briefing) – Natürlich wäre es am bequemsten, wir könnten die Bilder, die uns aus Washington erreichen, als amerikanische Verrücktheit betrachten. Das sind sie auch. Aber das sind sie nicht nur.

Es war die unversöhnliche Gesellschaft, die einen Präsidenten Donald Trump als ihre böse Frucht hervorbrachte. Es war ein Präsident Trump, der diese Unversöhnlichkeit wie einen fruchtbaren Acker bewässerte und düngte, bis die Stauden böser Früchtchen sich im Wind wiegten.

Es gibt einen Trumpismus ohne Trump. Der grassiert auch in Europa. In London. In Budapest. In Rom. In Ostdeutschland. In den USA hat er sich lange vor diesem spektakulären Finale der republikanischen Partei bemächtigt.

Newt Gingrich und Sarah Palin bildeten die Vorhut. Konservative Politiker wie die Senatoren Ted Cruz und Josh Hawley streben nun danach, die aufgeheizten Trump-Fans hinter ihrer Flagge zu versammeln. Ihr strategisches Kalkül: Der Hasardeur geht, der Hass bleibt. Trumps Erbschaft gilt ihnen als fette Beute.

Die amerikanischen Republikaner müssen sich entscheiden, ob sie zu Reagan und Bush in die bürgerliche Mitte zurückkehren oder wie die Vampire am Blut der Trump-Leiche saugen wollen. Dieses Blut des Narzissten ist toxisch und nahrhaft zugleich.

  • Nahrhaft, weil 74,2 Millionen Amerikaner Trump gewählt haben. 8,3 Millionen mehr als Obama. 12,1 Millionen mehr als George W. Bush. Auf dieser Gefolgschaft lässt sich eine Kirche bauen.
  • Dieses Blut ist zugleich toxisch, weil es bei der bürgerlichen Mitte zu schweren allergischen Abwehrreaktionen kommt. Wer als Konservativer die Zustimmung von Henry Kissinger, Bush-Familie und die des Zentristen Mitt Romney verloren hat, besitzt auf absehbare Zeit keine Machtperspektive. Er kann abends bei FoxNews Gift und Galle spucken, aber im Weißen Haus regieren, das kann er nicht.

Fragen von historischer Tragweite sind aufgeworfen: Will man weiter die Vergangenheit nostalgisch verklären, die Moderne bekämpfen und das Reaktionäre umarmen, oder will man sich mit dem praktisch gewordenen Liberalismus der Städter und der Jugend verbünden? Hört man zum Einschlafen die Nationalhymne, um dann des Nachts mit den Dämonen des Rechtspopulismus zu tanzen? Es ist diese eine Frage, die jeder Republikaner für sich beantworten muss: Wer ist dieser Donald Trump: Held oder Betriebsunfall?

Vielleicht sollten die amerikanischen Konservativen bei dieser Selbstfindung nicht nur in den Spiegel, sondern auch nach Europa schauen. Die gegenwärtige Welt mag schwer zu dechiffrieren sein; „unlesbar”, wie der Politologe Mark Lilla meint, ist sie nicht.