Liebe Frau Landgraf, lieber Herr Wagner,
herzlichen Dank für die Zusendung dieser interessanten Studie. Allerdings habe ich gewisse Vorbehalte, diese zu veröffentlichen, da sie ja der vorherrschenden Meinung widersprich. Bisher galt, dass die Schulen nur unwesentlich am Infektionsgeschehen beteiligt seien. Noch heute hat der WDR in einer Rundfunksendung behauptet, in den Schulen wäre das überhaupt kein Problem, aber auf dem Schulweg läge der Schwerpunkt, insbesondere, weil dort besonders die Eltern und ihre Kontakte untereinander die Ansteckungsgefahr verschlimmerten.
Als ehemaliger Pädagoge – ich war Studienrat für Mathematik und Physik mit zwei Staatsexamen, habe ich immer die Bedeutung des Präsentunterrichts in meinen Fächern hervorgehoben. In meiner Staatsarbeit, die ich 1965 vorlegte, hatte zum Thema, den damals schon anvisierten programmierten Unterricht und seine Wirkung auf den Schüler. Es war eine empirische Arbeit, in der ich zusätzlich meine Erkenntnisse einbringen konnte, die ich in meinem parallelen Soziologiestudium erworben hatte. Sie wurde mit sehr gut bewertet im Sinne von Summa cum Laude, obwohl das Ergebnis niederschmetternd war.
Seinerzeit war die Computer-Technologie noch nicht so weit und ich musste auf lineare Skinner-Programme zurückgreifen, die ich selbst entwickelte. Als Quintessenz vermerkte ich, dass es dem Autor dieser Programme die größten Vorteile brachte, weil er sich bis in Detail mit Didaktik und Motivation auseinander setzen musste. Dem selbstständigen Arbeiten der Schüler half es nur dann, wenn der Lehrer es im nachhinein durch Präsenz unterstütze. Das lässt mich noch heute auf die Wichtigkeit des kooperativen Unterrichts in der Klasse schließen. Deshalb lässt mich die Nachricht, dass Schulen wider erwarten eine solch hohe Bedeutung als Viren-Schleuder beigemessen wird, sehr nachdenklich werden. Wie wirkt es auf die Adressaten und trägt zur Entmutigung der gesamten Gesellschaft bei, in der das Prinzip, dass nicht sein darf, was nicht sein kann, die Oberhand gewinnt. Das ist eine der Ursachen dafür, dass immer mehr Menschen die notwendigen Empfehlungen der Wissenschaft ignorieren und die Politiker, die danach handeln, verunglimpfen. Nur so erkläre ich mir den enormen Einfluss, den die sogenannten Querdenker mit ihrer Ignoranz gewonnen haben. Etwa ein Drittel der Bevölkerung wurde für solche Verschwörungstheorien anfällig und in deren Fahrwasser tummeln sich immer mehr faschistoide politische Ideen. Leider gehören dazu auch die AFD, Reichsbürger und Konsorten. Wenn die Autorität des Staates so infrage gestellt wird, dann ist es klar, dass die besten Ratschläge der Wissenschaft missachtet werden. Das halte ich für wesentlich gefährlicher als die Infektion in den Schulen.
Leider entfernen wir uns dadurch immer mehr von rationalen Prinzipien. Ich weiß leider keinen Rat, aber es wäre interessant, die Lösung des KIT zu erfahren. Sie wissen, wie hoch ich die wissenschaftliche Kompetenz des KIT schätze.
Mit freundlichen Grüßen
Jean Pütz
(KIT) – Bevor ausreichend viele Menschen geimpft sind, bleiben nichtpharmazeutische Interventionen (NPI) – wie das Reduzieren sozialer Kontakte – notwendig, um die Bevölkerung so gut wie möglich vor einer Covid-19-Infektion zu schützen. Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) haben mit Methoden des Maschinellen Lernens die Wirksamkeit von NPI untersucht. Ihre Analyse von Daten aus neun europäischen Ländern und 28 US-Bundesstaaten zeigt, dass insbesondere frühzeitige Schulschließungen die Trendwende bei den täglichen Fallzahlen ausmachen können.
Die Wissenschaftler am Karlsruhe Service Research Institute (KSRI)/Institute of Information Systems (IISM) des KIT untersuchten die zwischen dem 22. Januar und 12. Mai 2020 von der US-amerikanischen Johns-Hopkins-Universität erhobenen täglichen Fallzahlen aus Österreich, Belgien, Deutschland, Italien, Norwegen, Spanien, Schweden, der Schweiz und Großbritannien sowie 28 US-Bundesstaaten.
Signifikanter Einfluss von Schulschließungen auf Trendwende der Fallzahlen
Vier Maßnahmen nahmen die Forscher in den Blick: die allgemeine Einschränkung von Versammlungen, das Reduzieren persönlicher sozialer Kontakte, Schulschließungen sowie einen Lockdown. Berücksichtigt wurden außerdem länderspezifische Merkmale wie die Altersstruktur, Bevölkerungsdichte, medizinische Infrastruktur und das Klima in den jeweiligen Ländern und Bundesstaaten. „Nach unserem Forschungsansatz konnte bei den Schulschließungen ein signifikanter Effekt auf die Dauer zwischen NPI-Beschluss und deren Auswirkung in den Daten identifiziert werden“, sagt Dr. Niklas Kühl, Leiter des Applied AI in Services Labs am KSRI/IISM. Je eher die Schulen geschlossen worden seien, desto deutlicher habe sich der Effekt sinkender Fallzahlen gezeigt, so Kühl. „Hätten wir im Frühjahr in Deutschland einen Tag länger gewartet, bis wir die Schulen schließen, hätte dies laut unseren Analysen 125 000 zusätzliche Infektionen bedeutet, die Schließung sieben Tage später sogar 400 000 zusätzliche Fälle“, sagt der Wirtschaftsinformatiker.
Bis eine Maßnahme wirkt, dauert es im Durchschnitt zwei Wochen, fanden die Forscher heraus. Das Ergebnis der Effektivität von Schulschließungen bedeute jedoch nicht, dass andere NPI oder Faktoren, die nicht in das Modell einbezogen worden seien, nicht auch einen wesentlichen Einfluss auf die Eindämmung der Pandemie haben könnten, so die Wissenschaftler in ihrer Veröffentlichung. Das Tragen von Masken wurde in der Untersuchung nicht analysiert, weil diese Maßnahme in den betrachteten Ländern zumeist erst spät eingeführt wurde. Alle Forschungsarbeiten, die sich auf die Messung der Wirksamkeit verschiedener NPI bezögen, seien mit einem hohen Maß an Unsicherheit verbunden, so die Forscher. Dies liege insbesondere daran, dass je nach Land beziehungsweise Bundesstaat die konkrete Umsetzung stark variiere und die Bevölkerung die Maßnahmen unterschiedlich diszipliniert einhalte.
KI erkennt Einfluss auf Fallzahlen
Für faktenbasierte Aussagen über die Effektivität von Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie nutzten die Wissenschaftler Lucas Baier, Niklas Kühl, Jakob Schöffer und Gerhard Satzger vom KIT die Concept Drift-Erkennung. Diese Methode aus dem Gebiet des Maschinellen Lernens wird angewandt, um eine strukturelle Veränderung – einen sogenannten Drift – in einer datenerzeugenden Umgebung zu erkennen. „Als in der Bekämpfung der Corona-Pandemie öffentlich die Frage diskutiert wurde, wann eine Maßnahme sich auf die Fallzahlen auswirke, haben wir entschieden, Verfahren aus diesem Bereich zu verwenden, um dies festzustellen“, sagt Kühl. Üblicherweise dient die Concept Drift-Erkennung dazu, KI robust zu gestalten: Es soll sichergestellt werden, dass die mit vorhandenen Daten trainierte KI im Einsatz erkennt, wenn sich die Umgebung ändert. Somit soll sie auch bei Eingangsdaten, die vom Gelernten abweichen, kontinuierlich akkurat weiterarbeiten. Die Wissenschaftler haben sich die Methode zunutze gemacht, um eine fundamentale Änderung der Daten zu erkennen und mit der vorangegangenen Einführung einer NPI in Beziehung zu setzen. „Unsere Analyse zeigt, wie wichtig eine rechtzeitige Reaktion auf die Ausbreitung der Pandemie ist, um die aktiven Fälle auf einem überschaubaren Niveau zu halten“, schreiben die Karlsruher Wissenschaftler. Mit ihrer Untersuchung wollen sie zur faktenbasierten Grundlage für nationale und übernationale gesundheitspolitische Entscheidungen beitragen.