Große Mengen an Schmelzwasser auf ostantarktischem Eisschelf
Entdeckung einer Ringstruktur vor zwei Jahren führt zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen
Bremerhaven, den 12. Dezember 2016. Die ostantarktischen Eisschelfe
könnten anfälliger für Klimaveränderungen sein als bislang angenommen.
Ein Forscherteam unter Beteiligung des Alfred-Wegener-Instituts hat
große Mengen an Schmelzwasser im Roi Baudouin-Schelfeis nachgewiesen.
Verantwortlich dafür sind starke Winde, die warme Luft transportieren
und den Schnee wegwehen. Das ist das Ergebnis einer Studie, die jetzt in
der Online-Ausgabe des Fachmagazins Nature Climate Change
veröffentlicht worden ist.
Vor zwei Jahren entdeckten internationale Wissenschaftler durch Zufall
eine ungewöhnliche, ringförmige Bruchstelle im Roi Baudouin-Schelfeis in
der Ost-Antarktis. Schnell verbreitete sich die Frage, ob es sich
hierbei um einen Einschlagskrater eines hunderte Tonnen schweren
Meteoriten handeln könnte. Die Vermutung erwies sich jetzt nach näheren
Untersuchungen durch Eis-Experten als falsch.
Im Januar 2016 hat der belgische Wissenschaftler und Erstautor der
Studie Jan Lenaerts von der Universität Utrecht mit einem Team den
Krater vor Ort genauer erforscht. In Kombination mit Klimamodellen und
Satellitenaufnahmen haben sie herausgefunden, was zu dieser Ringstruktur
geführt hat. Ihre Ergebnisse veröffentlichen sie jetzt in der
Online-Ausgabe des Fachmagazins Nature Climate Change.
Tatsächlich handelte es sich nicht um einen Meteoriten-Einschlag. Der
Verdacht hat allerdings zu überraschenden Erkenntnissen geführt. Die
Wissenschaftler konnten mit Beteiligung der AWI-Glaziologen Prof. Dr.
Olaf Eisen und Dr. Veit Helm nachweisen, dass es in der Ost-Antarktis
deutlich größere Mengen an Schmelzwasser gibt als bislang angenommen.
Sie entdeckten zahlreiche glaziale Seen auf und im Eis. Auch bei der vor
zwei Jahren gefundenen Bruchstelle handelt es sich um einen früher mit
Wasser gefüllten glazialen See. Im Schelfeis befinden sich zudem viele
bisher nicht bekannte Schmelzwasser-Flüsse.
Schelfeis ist der auf der Meeresoberfläche schwimmende Teil eines
Gletschers. Es ist für die Stabilität des Eisschildes von Bedeutung,
weil es die Fließgeschwindigkeit des nachrückenden Eises aus dem
Landesinneren bremst. „Das ganze System ist allerdings an einer
Grenzschwelle“, sagt Olaf Eisen. „Wenn es verstärkt zu wärmeren Sommern
kommt, weitet sich die Schmelzfläche aus. Dadurch könnte das Schelfeis
instabiler werden und schließlich auseinanderbrechen. Dies ist noch kein
Horrorszenario, aber eine ernst zu nehmende Beobachtung.“
Als Ursache haben die Wissenschaftler starke Winde ausgemacht,
sogenannte katabatische Winde. Diese wehen vom Hochplateau des
antarktischen Inlandeises hinunter Richtung Küste. Dort gibt es quasi
einen Knick an dem Übergang zwischen dem Abhang des Festland-Eises und
dem horizontal auf dem Wasser liegenden Schelfeis. Die Winde tragen
permanent Luft in diese Region, wie beim Föhn in den Alpen, der am Knick
stärker verwirbelt. An dieser Stelle sorgen die Winde dafür, dass der
Schnee an der Oberfläche kontinuierlich weggeweht wird.
„Das dadurch teilweise offen liegende feste Eis ist dunkler als der
weiße Schnee und absorbiert folglich mehr Sonnenenergie – die Oberfläche
wird stärker erwärmt“, sagt Olaf Eisen. „Normalerweise reichen die
kalten Jahresmitteltemperaturen aus, damit das Wasser schnell wieder
friert. Wenn es allerdings zu warm wird, bildet sich so viel
Schmelzwasser, dass es sich durch das Schelf seinen Weg ins Meer sucht.
Das kann auf Dauer das Schelfeis schwächen und instabiler machen.“
Bei der Ringstruktur selbst handelt es sich um eine sogenannte
Eisdoline. „Sie entsteht, wenn sich Schmelzwasser im Inneren oder nahe
der Oberfläche eines Gletschers ansammelt, an seiner Oberseite wieder
friert, das Wasser darunter aber nach unten abfließt. Dann entsteht im
Gletscher ein Hohlraum, dessen Decke irgendwann einstürzt. In Grönland
und auf Schelfeisen an der Antarktischen Halbinsel werden solche
Trichterbildungen bereits seit den 1930er Jahren beobachtet“, sagt Olaf
Eisen. Für die Ost-Antarktis sind die Kenntnisse allerdings neu – wobei
der Krater selbst keineswegs neu war: Ausgewertete Satellitenbilder
zeigen, dass die Ringstruktur bereits im Jahr 1989 existierte. Olaf
Eisen: „Das Schmelzwasser gibt es dort also schon länger und insgesamt
scheint das System über die vergangenen Jahrzehnte auch stabil gewesen
zu sein. Aber es ist eben deutlich empfindlicher als bisher bekannt. Das
heißt, eine kleine Störung des Systems könnte bereits große
Auswirkungen haben.“
Originalpublikation:
J. T. M. Lenaerts, S. Lhermitte, R. Drews, S. R. M. Ligtenberg, S.
Berger, V. Helm, C. J. P. P. Smeets, M. R. van den Broeke, W. J. van de
Berg, E. Van Meijgaard, M. Eijkelboom, O. Eisen, F. Pattyn: Meltwater
produced by wind-albedo interaction stored in an East Antarctic ice
shelf, Nature Climate Change, DOI: 10.1038/nclimate3180