Diese US-Demokratie ist nicht mehr zu retten

(Zukunft machen) – Egal ob Joe Biden oder Donald Trump gewinnt – beide stehen nicht für das politische System, das die USA eigentlich benötigen. Doch eine neue, idealistische Graswurzelbewegung könnte die Rettung bringen.

Die berühmte „agony of choice“ – die Qual der Wahl – war für viele Millionen US-Amerikaner*innen lange nicht mehr so spürbar wie vor der diesjährigen Präsidentschaftswahl. Warum? Weil die Wahl zu spät kommt!

Stellt man zwei alte weiße Männer vors Weiße Haus, darf man nicht erwarten, große Kontraste zu erkennen. In ihrem Kampf um den Einzug in Washingtons Elfenbeinturm beweisen beide Kandidaten wenig Profil. Der eine ist ein alternder Superreicher – der andere auch. Dennoch kann die Antwort auf die Wahlfrage nur eine sein: Vote Biden! Denn wer ernsthaft mit der Vorstellung eines Rassisten, Sexisten, Lügners und Demagogen als US-Präsident liebäugelt, dem muss geholfen, aber nicht mehr zugehört werden.

Vom Anspruch, eine repräsentative Demokratie zu sein, entfernen sich die USA immer weiter
Bei all seiner politischen Brisanz wird der 3. November 2020 den Geschichtsbüchern der Zukunft trotzdem nur eine Randnotiz wert sein. Pandemie und Proteste bestimmen das Zeitgeschehen. Die anstehende Entscheidung über das Präsidentenamt ist eine symptomatische Behandlung, wird das aktuelle Modell der US-Demokratie aber nicht retten können. Dafür ist es zu spät. Dafür sind die Gräben zu tief. Vier Jahre Trump und 16 Jahre Social Media haben ihre Spuren hinterlassen.

Vom eigenen Anspruch, eine repräsentative Demokratie zu sein, entfernen sich die USA immer weiter. Natürlich ist das kein unbedingt neues Phänomen, steigt doch die Einflussnahme durch Lobbyinteressen beispielweise bereits seit Jahrzehnten. Die enorme Geschwindigkeit, mit der gesellschaftliche Gruppen und Schichten auseinanderdriften, ist aber eine neue. Unabhängig von ihrer politischen Orientierung erkennen sich viele Menschen in ihren politischen Vertretern nicht wieder. Was dabei für manche von ihnen „bloß“ bedeutet, dass sie ihre politische Haltung nicht repräsentiert sehen, ist für andere der Fakt, dass ihre gesellschaftliche Gruppe im politischen System strukturell diskriminiert wird und kaum stattfindet. Das Modell der demokratischen Repräsentation der Bevölkerung existiert in den USA nur noch auf dem Papier.

Hoffnung gibt es aber! Denn längst findet die echte US-Demokratie in den Köpfen, auf den Straßen und auch im Internet wieder statt – gemacht von Idealisten, am Rande oder abseits der alten Parteien. Fast schon sarkastisch: Hierfür haben Trump und Konsorten gewissermaßen den Weg geebnet.

Wenn es nicht mehr um Fakten geht, schlägt die Stunde der Idealisten
Als ich im Frühjahr 2016 in den USA lebte, waren die Kampfbegriffe von Trumps Kampagne schon präsent. „Fake news“ und „lies“ waren allgegenwärtig – bis „alternative facts“ hat es nicht mehr lang gedauert. Zunehmend spürbar, ergriff eine breite Verunsicherung die US-Amerikaner*innen und hält sie bis heute in ihrem Griff. Kein Wunder, werden ihnen doch als Lösung von komplexen Problemen viel zu einfache Wahrheiten verkauft: beispielsweise in Form einer Mauer zu Mexiko, mit der man angeblich die USA rettet. Wem ist zu glauben, wem nicht? Berechtigte Fragen, deren Beantwortung vielen Amerikaner*innen nicht mehr leichtfällt. Was aber der freien Presse ihre wichtige Arbeit erschwert und Extremist*innen einen Nährboden für demokratiefeindliche Theorien bietet, schafft auch eine Chance für die gute Seite.

Denn wenn nicht mehr diskutiert wird, was stimmt und was nicht, dann geht’s ans Eingemachte. Dann geht es um Werte und um den Glauben an solche. Es schlägt die Stunde der Idealisten!

Bislang gab es von denen zu wenige: Tatsächlich ist ein Grundproblem der US-Demokratie die mangelnde Partizipation weiter Bevölkerungsteile am politischen Geschehen. Achtung: Damit meine ich noch nicht einmal die Beteiligung am direkten Wahlgeschehen – wo bürokratische Hürden unfaire Missstände schaffen, die wiederum nicht leicht zu beseitigen sind. Doch jetzt gibt es eine neue Entwicklung. Die allgemeine politische Teilnahmslosigkeit wird inzwischen immer mehr durch ein Political Empowerment abgelöst: Gesellschaftliche Gruppen, die bisher – aufgrund verschiedenster, aber vor allem diskriminierender Ursachen – nicht am politischen Prozess partizipieren, befähigen sich immer mehr zur demokratischen Teilhabe und fordern ihr Recht darauf ein.

Die Themen, die diese neue Aktivität auslösen, sind vielfältig, betreffen jeden und bedürfen keines Expertenwissens, um sie öffentlich zu diskutieren. Man muss nicht studieren, um zu verinnerlichen, dass die eigene Stimme es wert ist, gehört zu werden. Sich gegen strukturellen Rassismus, Diskriminierung, Sexismus oder Polizeigewalt zu engagieren bedarf keines Collegeabschlusses. Ein klares Bekenntnis zu Werten und Grundpfeilern jeder demokratischen Verfassung schafft eine Haltung, die automatisch politisiert.

Menschen wie Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) zeigen den abgehängten und verunsicherten Amerikaner*innen eine Perspektive, endlich wieder partizipieren zu können. Bernie Sanders schafft mit seinem Engagement für ein reformiertes Wahlrecht und kostenlose Hochschulbildung Anreize für dringend notwendige strukturelle Änderungen. AOCs Forderung nach gesellschaftlicher Repräsentation und ihr Kampf gegen den elitären Klassismus der US-Politik machen den Menschen Mut, sich selbst zu engagieren.

Ihr demokratischer Idealismus, dem sie Handlungen folgen lassen und mit dem sie bisher auch vor Kritikern bestehen, ist ein Ausweg. Bewegungen – wie Black Lives Matter, Fridays for Future oder Brand New Congress – bringen die Amerikaner*innen vielleicht nicht direkt an die Wahlurnen, aber auf die Straße. Konzepte wie Green New Deal oder Gemeinwohlökonomie werden nicht mehr nur auf Lobbyistenpartys verhandelt, sondern in den Köpfen der Bevölkerung durchdacht.

Demokratische Idealisten bringen die Demokratie zurück in die Öffentlichkeit und schaffen bei den abgehängten Gruppen ein neues Interesse an Politik. Wichtiger ist aber: Demokratische Idealisten bringen die Öffentlichkeit auch wieder zurück in die Demokratie und verhelfen den Ungehörten zu Wahrnehmung und Teilhabe.

Auch wenn sie also die letzte Hoffnung der amerikanischen Demokratie sein mögen, sie sind eine! Ich schaue seit längerer Zeit mal wieder hoffnungsvoll auf die USA und möchte Sie einladen, das auch zu tun. Eine wirklich demokratische Weiterentwicklung wird es mit den beiden alten Männern, die gerade um den Einzug ins Weiße Haus kandidieren, nicht geben. Die Präsidentschaftswahl und ihr Ausgang? Sorry – „too little, too late“.

Es ist Zeit für größere Veränderungen, und das nicht nur in den USA!