Die Zerstörung des Corona Hypes“ – was ist dran?

(swr3) – „Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffen wirst, dieses Video bis zum Ende anzuschauen, ohne am Ende der Meinung zu sein, dass die Maßnahmen, der Lockdown und die Kontaktsperren zu keinem Zeitpunkt gerechtfertigt waren“, verspricht ein Student in einem Video auf Youtube. Es hat mittlerweile knapp 500.000 Aufrufe. Was ist dran an seinen Thesen?

Das knapp einstündige Youtube-Video Die Zerstörung des Corona Hypes hat nach einer Woche knapp eine halbe Millionen Aufrufe. Es erschien Ende Juni auf dem Kanal Teil der Lösung. Hier stellt sich der Autor zu Beginn selbst vor: Sebastian, Psychologiestudent aus Ulm. Er verspricht: „Ich werde in diesem Video das Thema Corona komplett in seine Einzelteile zerlegen. Und ich fordere dich hiermit heraus zu einer Wette: Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffen wirst, dieses Video bis zum Ende anzuschauen, ohne am Ende der Meinung zu sein, dass die Maßnahmen, der Lockdown und die Kontaktsperren zu keinem Zeitpunkt gerechtfertigt waren.“

Hier geht’s zum Video Die Zerstörung des Corona Hypes“

1. Basisfakten: Bekanntheit, Veränderung und Saison

Im Video werden drei Fakten vorangestellt:

  1. Viren verändern sich ständig
  2. Coronaviren sind seit Jahren bekannt
  3. Jeden Winter kommt es zu einer erhöhten Sterblichkeit durch akute Atemwegserkrankungen (Grippewelle)

Bekanntheit und Mutation – wenig ergiebig
Soweit gibt es gegen diese drei Fakten nichts einzuwenden, abgesehen davon, dass sich daraus wenig ableiten lässt. Dass Viren sich ändern können, lässt keinen Schluss auf die Einschätzung des neuen Coronavirus zu. Viren können sich so verändern, dass sie harmloser werden oder umgekehrt für den Menschen als Wirt gefährlicher. Wobei man auch hier die Frage stellen müsste, wie das eigentlich genau definiert würde. Denn Viruserkrankungen, die für Infizierte durchgängig starke Symptome bedeuten oder häufiger tödlich enden, verbreiten sich dafür oft weniger stark. Dadurch können sie für den Einzelnen gefährlicher, für eine Gesellschaft insgesamt leichter kontrollierbar sein. Auch kann die Mutation eines Virus bedeuten, dass bereits gefundene Gegenmittel nicht mehr wirken (das simpelste Beispiel ist die jährliche Anpassung der Grippeimpfung) oder das Immunsystem noch nicht auf den neuen Erreger spezialisiert ist.

Dass Coronaviren bekannt sind, stimmt ebenfalls – das neue SARS-Cov-2 hingegen ist es nicht. Und gerade weil Viren mutieren und sich verändern können, bietet das keinen Vorteil im Sinne des vorhandenen Wissens, das sich von anderen Viren des Stamms auf diesen neuen ableiten lassen würde.

Die fehlende Einordnung oder konkrete Ableitung der genannten Fakten macht es schwierig zu erkennen, was ihre Auflistung für die im Video zu Beginn aufgestellte These, „dass die Maßnahmen, der Lockdown und die Kontaktsperren zu keinem Zeitpunkt gerechtfertigt waren“, bedeuten sollte.

Der Vergleich mit der Grippewelle – ein Klassiker
Psychologie-Student Sebastian zeigt Karten von Grippewellen und die Monate, in denen sie verstärkt auftreten. Was er genau sagen möchte, wird nicht klar. Möglicherweise geht es darum zu verdeutlichen, dass die Corona-Pandemie vergleichbar sei oder schwächer als jährlich auftretende Verläufe von Grippeerkrankungen. Da er allerdings auch hier keine konkrete These formuliert, lässt sich eben nur vermuten, was damit genau belegt werden soll. Im Laufe des Videos wird erneut auf den Grippe-Vergleich verwiesen.

Tatsache ist: Der Vergleich zwischen Grippewellen und dem neuen Coronavirus kursiert schon seit Beginn der Pandemie als Argument für übertriebene politische Maßnahmen. Dass dies nicht haltbar und statistisch irreführend ist, wurde vielfach dargelegt, unter anderem von Correctiv, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland oder dem Faktenfinder der Tagesschau – bereits im April. Mehr zu „Grippe vs. Corona“ findest du auch hier im SWR3-Faktencheck-Überblick.

Außerdem gilt, wie an vielen anderen Stellen zu diesem Video: Aktuelle Statistiken dazu, wie viele Menschen an Covid-19 versterben, können in Deutschland nur vor dem Hintergrund der getroffenen Maßnahmen verstanden werden und dienen daher nicht als Argument für oder gegen die Beschränkungen. Wir haben keine Zahlen dazu, wie es sich Deutschland ohne Shutdown entwickelt hätte , egal ob man Befürworter oder Gegner ist. Möglich sind lediglich Vergleiche zu anderen Ländern – und auch die sind mit Vorsicht anzulegen.

Dazu kommt: Grippe – selbst wenn man sie mit Corona vergleichen könnte – ist ebenfalls keine Lappalie. Die Folgen werden gerne unterschätzt, worauf auch das RKI bereits seit Jahren hinweist.

2. Kritik am Umgang mit der Schweinegrippe
Als wichtiges Wissen („was man auch unbedingt wissen sollte“) wird außerdem vorausgeschickt, dass die Schweinegrippe 2009 relativ harmlos verlief, obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die höchste Pandemiestufe ausgerufen hatte. Ein genauer Zusammenhang, was die Entscheidung damals mit der Corona-Lage heute zutun hat, wird auch an dieser Stelle nicht konkret formuliert. Durch eingespieltes Filmmaterial einer Arte-Dokumentation, in dem auch die heute im Fokus stehenden Experten Christian Drosten und Wolfgang Wodarg gegeneinander geschnitten sind, vermittelt sich der Eindruck, dass die Schweinegrippe-Einschätzungen von damals mit denen der Pandemie heute vergleichbar seien. Der beteiligte Epidemiologe Drosten äußerte sich dazu bereits im Mai in seinem Podcast.

Wie mit neuen Erregern – von SARS bis Schweinegrippe – in der Vergangenheit umgegangen wurde und welche Erkenntnisse daraus gezogen werden konnten, die heute auch die Einschätzung und Maßnahmen gegen das neue Coronavirus beeinflussen, hat der Deutschlandfunk hier mit mehreren verschiedenen Experten aufgearbeitet.

Experten nennen es Präventionsparadoxon wenn eine Maßnahme für den Einzelnen nicht merklich etwas bringt, aber von gesamtgesellschaftlichem Nutzen sein kann. Man spürt als Einzelperson nicht, was man insgesamt verhindert hat. War es unsinnig, für Krebsvorsorge zu werben, wenn man bei mir nichts findet? War die Vorsicht im Umgang mit der Schweinegrippe falsch, wenn die große Pandemie in Deutschland nicht angekommen ist? Waren die Maßnahmen im Zusammenhang mit Corona übertrieben, wenn es mich persönlich vielleicht gar nicht getroffen hätte?

Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass Kritik am Umgang mit der Schweinegrippe damals genauso legitim ist wie die Kritik am Umgang heute mit der Corona-Pandemie. Aus der Darstellung von Maßnahmen oder Aussagen aus 2009 lässt sich aber kein Beweis oder Gegenbeweis dafür entwickeln, dass heute angemessen oder unangemessen mit der Pandemie umgegangen wird.

Und: Selbst wenn sich einzelne Experten in der Vergangenheit verschätzt haben, sagt das nicht notgedrungen etwas über ihre Kompetenz. Denn die Schweinegrippe war damals genauso neu wie heute SARS-CoV-2 und damit als sie auftrat ebenso wenig abschließend einschätzbar.

3. Kritik an Statistiken: allgemein und „in den Medien“
In Die Zerstörung des Corona Hypes wird als Beispiel für die Darstellung von Corona-Statistiken „in den Medien“ die Tagesschau aufgeführt. Kritik: Es handle sich nicht um die Anzahl infizierter Menschen, sondern lediglich um diejenigen, die positiv getestet wurden. Das ist absolut richtig und ein sehr wichtiger Punkt für die Interpretation und das Verständnis von Statistiken über Corona im Allgemeinen. In ihrer Statistik führt die Tagesschau genau deshalb in der Überschrift auf, dass es sich bei den Zahlen um Bestätigte Corona-Fälle handelt – also eben nicht um alle, sondern um die durch einen Test bestätigten Fällen.

Interessant ist, sich den kritisierten Tagesschau-Beitrag nicht nur im Screenshot anzusehen, wie er im Video dargestellt wird. Denn in der Sendung, aus der das Bild stammt, unterstützt ein Sprechertext die Zahlen. Moderatorin Judith Rakers sagt dazu: „Das RKI [Robert-Koch-Institut] bestätigte heute rund 99.200 Infizierte, die Zahl der Corona-Toten stieg auf 1.607“ – es wird also ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um die getesteten und positiv bestätigten Fälle handelt.

Sicher lässt sich darüber diskutieren, ob es genügt, die Zahlen an dieser Stelle unmissverständlich zu transportieren. Tatsächlich macht es die Kürze der Darstellung in einem Nachrichtenüberblick oft schwer, alle Hintergründe – insbesondere bei etwas so Kompliziertem wie dem Coronavirus – ausführlich einzubinden.

Da aber der Ulmer Psychologiestudent nur einen Beitrag anführt, um grundsätzlich die Darstellung „in den Medien“ zu zeigen, ist folgendes zu bedenken:

Die kritisierte Tagesschau-Sendung ist vom 7. April 2020 – zwei Tage später wurden die ersten Zwischenergebnisse der umstrittenen Heinsbergstudie präsentiert. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine breite Debatte über die Dunkelziffer (also jene Zahl von Menschen, die infiziert sind, aber keinen Test gemacht haben, beispielsweise weil sie kaum oder gar keine Symptome haben). In vielen Medien wurde ausführlich über die Problematik der hohen Dunkelziffer berichtet. Auch in der Tagesschau: zum Beispiel hier, hier oder hier.

Längst bekannt: Das Problem mit der Dunkelziffer
Im Video des Ulmer Studenten wird bei Minuten 5:03 eine Grafik gezeigt, in der die Höhe der insgesamt Infizierten über die Kurve der gemeldeten Fälle gelegt wird. Dies soll verdeutlichen, dass die Pandemie überschätzt würde. Denn wenn mehr Menschen infiziert sind, dann wird der Anteil der Verstorbenen geringer – die Sterberate sinkt.

Woher die Kurve kommt, die in der gezeigten Darstellung anschaulich hoch über den Balken der gemeldeten Fälle liegt, ist nicht nachvollziehbar. In der Quellenangabe gibt es keinen Link zu diesem Abschnitt. Tatsächlich forschen Wissenschaftler auf der ganzen Welt an einer Annäherung an eine zutreffende Sterberate. Aktuell gibt es nur Schätzungen. Es ist also unwahrscheinlich, dass der eingezeichneten weißen Kurve valide Zahlen zugrunde liegen, bei der es sich nicht lediglich um Schätzungen handelt. Und genau darin liegt das Problem: Natürlich würde jeder Wissenschaftler gerne die absolute Zahl aller Infizierten wissen – und damit bestätigt dieses Video eigentlich nur die allgemeingängige Expertenmeinung, dass die Dunkelziffer hoch sein wird und es wichtig wäre, das genauer zu wissen.

Corona-Tests erhöhen die Zahl der bestätigten Infektionen?
Auch die nachfolgenden Erläuterungen dazu, dass ein Anstieg bei den Corona-Tests die Zahl der bestätigten Infizierten erhöhen kann, deckt keinen Skandal auf, sondern ist logisch. Aber: Die Tests lösen keine Pandemie aus. Sie zeigen lediglich, wie groß die Dunkelziffer ist. Umgekehrt würde ja auch niemand sagen: Lass uns nicht testen, dann haben wir auch keine Fälle.

Am Anfang einer Pandemie kann das durchaus sein, dass durch Tests die Zahl bestätigter Infektionen nach oben schnellt. Dass aber bei weiterer steigender Anzahl von Tests nicht automatisch die Zahl bestätigter Infektionen steigt, zeigt die Statistik, die im Video angeführt wird. Denn auch wenn in KW20 (11.-17.5.) viel mehr getestet wird als in KW11 (9.-15.3.), sind sowohl die absoluten Zahlen gemeldeter Fälle als auch die gemeldeten Infizierten pro 100.000 Tests (ein relevanter Wert, wie richtig im Video angemerkt wird) niedriger als damals.

Die Statistik ist also eher ein Gegenbeleg statt ein Beleg dafür, dass die Zahl bestätigter Infektionen im Verhältnis zu steigenden Tests zunimmt.

Hinzu kommt, wie bereits erwähnt, dass die Kriterien für einen Test geändert wurden und anfangs nur Menschen mit starken Symptomen getestet wurden, was für die statistische Interpretation wichtig ist. Zu Beginn und an der Stelle, die Student Sebastian hier als relevant erachtet, wurden keine Menschen getestet, die keine Krankheitssymptome hatten. Die erläutert auch der Volksverpetzer in einem Faktencheck.