Die EU, ein schwieriges Gebilde, aber lebensnotwendig

Es gibt viele Gründe, warum die EU-Mitglieder sich unterschiedlich entwickeln. Die Erfahrungen Italiens sind besonders lehrreich. Seit die Integration der Länder in Europa vorangetrieben wurde, hat es einen wirtschaftlichen Abstieg erlebt.

(EEAG Report) Die Unzufriedenheit mit der EU nimmt vielerorts zu und populistische und nationalistische Parteien gewinnen an Einfluss. Den europäischen Einigungsprozess für die schwache ökonomische Entwicklung in bestimmten Ländern sowie die in vielen Gebieten ausbleibende Konvergenz verantwortlich zu machen, greift jedoch zu kurz. Die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes hängt einerseits von Schocks ab, die ihren Ursprung häufig außerhalb der EU haben, andererseits von den politischen Entscheidungen der einzelnen Länder und ihren Institutionen, die es erleichtern oder erschweren können, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen.

Es gibt daher viele Gründe, warum die Entwicklungen der EU-Länder unterschiedlich verlaufen und warum manche Länder in einigen Phasen besser zurechtkommen, in anderen aber schlechter. Gleichzeitig existieren systematische Unterschiede zwischen Ländern hinsichtlich ihrer Fähigkeit, notwendige Reformen zum richtigen Zeitpunkt umzusetzen. Es ist wichtig, die den Länderentwicklungen zugrundeliegenden Mechanismen zu verstehen. Wir fokussieren uns auf strukturellen Wandel und Reformen in den EU-15-Staaten, da die fehlende Konvergenz zwischen diesen Ländern nach Jahrzehnten der Integration besonders erstaunlich ist, und untersuchen einige Länderbeispiele im Detail.

Im Falle eines Schocks bestimmt eine Reihe ökonomischer, politischer und institutioneller Faktoren, ob Reformen unternommen werden. Der europäische Integrationsprozess ist eine Antwort auf verschiedene Krisen in der Vergangenheit, bietet aber auch die Chance, von neuen Entwicklungen zu profitieren. Diese müssen aber politisch koordiniert werden, um die Kosten und Nutzen angemessen zu verteilen.

Italiens starke Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Erfahrung Italiens ist dabei besonders lehrreich. Das Land hat einen relativen wirtschaftlichen Abstieg erfahren, seit 1992 die Integration der Volkswirtschaften in Europa durch das Binnenmarktprogramm vorangetrieben wurde und Informationstechnologien sich zunehmend ausbreiteten. Diese Entwicklungen hatten Auswirkungen auf alle Länder, aber für Italien waren diese entweder besonders negativ oder das Land hat auf die entstehenden Herausforderungen nicht die richten Antworten gefunden. Um dem auf den Grund zu gehen ist es nützlich, etwas weiter zurück zu blicken, insbesondere auf Italiens starke wirtschaftliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Abbildung 1 zeigt das reale BIP pro Kopf für Italien, Frankreich und Deutschland, relativ zum Durchschnitt aller westeuropäischen Länder. Die Normalisierung gleicht Ereignisse aus, die ganz Europa betroffen haben (Kriege, technologisches Zurückfallen und Aufholen gegenüber den USA etc.) und hebt landesspezifische Entwicklungen hervor. Die Daten gehen zurück bis in das Jahr 1870, als Italien und Deutschland gerade als Nationalstaaten zu existieren begannen.

In Italien endete 1992 die politische Hegemonie der christdemokratischen Partei (Democrazia Christiana, DC). Während der gesamten Nachkriegszeit war die DC stets Teil häufig wechselnder Regierungskoalitionen. Strafrechtliche Untersuchungen brachten dieses System 1992 allerdings zu Fall. In der Folge fokussierte sich der politische Wettbewerb auf die Auseinandersetzung zwischen einer rechten Allianz von Silvio Berlusconis Forza Italia mit kleineren Parteien sowie verschiedenen Mitte-Links-Koalitionen unter der Führung von Romano Prodi.

Bei Europas Integration in die globale Wirtschaft sind die Auswirkungen nicht nur zwischen Individuen unterschiedlich, sondern auch zwischen Ländern. Freier Handel zwischen zwei Volkswirtschaften erhöht den durchschnittlichen Wohlstand in beiden Ländern, hat aber unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Berufsgruppen und Produktionsfaktoren. Viele Studien zeigen, dass die Handelsintegration mit nicht-europäischen Volkswirtschaften für die Kernländer der EU von größerem Nutzen hinsichtlich sich eröffnender Exportmöglichkeiten war als für die Peripheriestaaten.

Italien könnte, relativ gesehen, insgesamt zu den Verlierern dieses Mechanismus zählen. Wenn beispielsweise die Globalisierung Deutschland ermöglicht, mehr Maschinen nach China zu verkaufen und Kleidung eher aus Vietnam als aus Italien zu kaufen, profitiert der durchschnittliche Deutsche davon mehr als der durchschnittliche Europäer und deutlich mehr als der durchschnittliche Italiener. Der strukturelle Wandel, den die Globalisierung und der technologische Fortschritt notwendig machen, ist dabei an sich nicht länderspezifisch. Er wirkt sich auf Sektoren und Berufsgruppen aus sowie auf Regionen und Städte, in denen die jeweiligen Produktionsfaktoren eine mehr oder weniger große Rolle spielen. Die relative Bedeutung von positiv und negativ betroffenen Sektoren auf aggregiertem nationalem Level bestimmt jedoch die Relevanz dieses Wandels für die verschiedenen Länder.

Fabriken produzierten trotz Krise weiter

Um zu verstehen wie die wirtschaftliche Integration zur anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation Italiens führte, ist es notwendig, mögliche landesspezifische Gründe für die enttäuschende Entwicklung zu finden. In Italien waren Märkte, Politikmaßnahmen und Institutionen nicht dazu in der Lage, auf den Strukturwandel zu reagieren. Arbeits- und Finanzmärkte sollten die Produktionsfaktoren in hochproduktive Firmen und Sektoren lenken. Calligaris et al. (2016) dokumentiert jedoch, dass Italien nicht nur einen fast ununterbrochenen Rückgang in durchschnittlicher Faktorproduktivität aufwies, sondern auch einen starken und kontinuierlichen Anstieg von Produktivitätsunterschieden zwischen Firmen. Dieses Phänomen ist besonders im Nordwesten ausgeprägt, wo viele traditionelle Fabriken lange Zeit weiter produzierten, nachdem ihre Arbeiter schon lange neuen Beschäftigungen hätten nachgehen sollen. Das Ausmaß der Fehlallokation von Produktionsfaktoren ist eindeutig verknüpft mit Indikatoren von schwacher Unternehmensführung, -kontrolle und -finanzierung sowie falscher Belegschaftszusammensetzung, unzureichender Internationalisierung und Innovationsfähigkeit und Vetternwirtschaft. Dies gilt sowohl für die Zeit vor als auch nach der Einführung des Euros.

Solche Schwächen der italienischen Wirtschaft bestanden bereits vor der Stagnation, wie auch andere Probleme: etwa das organisierte Verbrechen und Korruption, die tief in der regionalen Heterogenität des Landes verwurzelt sind, ein ineffizientes Rechtssystem und ein nicht gerade konstruktives politisches Klima. Letzteres kann wiederum auf kulturelle Faktoren wie den Einfluss des Privatfernsehens und ein teilweise dysfunktionales Bildungssystem zurückgeführt werden. Während viele der Probleme auch während vorangegangener Boomphasen bestanden, wurden sie durch die aktuellen Entwicklungen zu einer deutlich größeren Belastung. Die italienischen Arbeitskräfte sind beispielsweise deutlich schlechter ausgebildet als in anderen Industrieländern. Dies hatte keinen negativen Effekt auf die Produktivität des Landes, so lange es traditionelle Güter produzierte, wurde allerdings zum Problem, als die ökonomische Integration und technologische Fortschritte einen Wandel hin zur Hightech-Produktion erforderlich machten. Selbst unter idealen Voraussetzungen würde es Generationen dauern, um das Bildungssystem den veränderten Anforderungen anzupassen. In Italien dauerte es jedoch zu lange, bis allein die Notwendigkeit von Reformen akzeptiert wurde. In diesem und auch anderen Aspekten muss sich Italien verändern, hat sich aber als weniger wandlungsfähig als andere Länder erwiesen.

Italien ist natürlich nicht das einzige Land, das Erfahrungen mit zunehmend turbulenten politischen Entwicklungen und einer andauernden Verringerung seiner Produktivität machte. Es existieren aber auch Beispiele für positivere Reformerfahrungen von Ländern, die den relativen Abstieg umkehren konnten. Dazu gehören Dänemark, die Niederlande, Schweden, Finnland und Deutschland. Diese Fälle zeigen, dass zwar auch Glück eine Rolle spielt, sinnvolle und zeitgemäße Reformen aber durchaus entscheidenden Einfluss haben. Darüber hinaus sind einige politische Systeme von Natur aus kohärenter und pragmatischer. Anpassung scheint in kleineren und homogeneren Ländern einfacher, in denen Entscheidungsträger Reaktionen auf Schocks besser koordinieren können.

Grundsätzlich sind Reformen keine einmalige Anstrengung. Zukünftige Entwicklungen können neue Reaktionen erfordern und es gibt kein Patentrezept, das hierbei zu befolgen ist. Es ist zu leicht, die Nachteile von Lösungen der Vergangenheit zu ignorieren, aber auch vereinfachende Scheinlösungen helfen nicht weiter. Der Wohlstand der Nationen hängt zwar teilweise von Umständen außerhalb der Kontrolle einzelner Länder ab, aber auch von konstruktiven Politikreaktionen auf diese Schocks. Die politischen Prozesse einiger Länder sind dafür gut geeignet, andere müssen an ihren Institutionen arbeiten. Alle Länder sollten sich jedoch bewusst sein: Neue Wege, die Gewinne und Verluste angemessen zu verteilen, helfen dabei, Stillstand zu vermeiden und sich dem unvermeidlichen Wandel anzupassen.