(ZEW) – Die Denkfabrik ZEW hält den milliardenschweren EU-Hilfsfonds für eine Fehlkonstruktion. Von der Pandemie stark betroffene Länder würden nicht gezielt unterstützt.
Brüssel Die Niederlande bekommen im Streit über den Corona-Wiederaufbauplan Schützenhilfe aus Deutschland: Das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat den Plan untersucht und kommt zu einem vernichtenden Urteil. Anders als von der EU-Kommission behauptet kämen die 750 Milliarden Euro keineswegs gezielt den von der Pandemie besonders stark betroffenen Ländern zugute.
Einen wirksamen Reformanreiz für wachstumsschwache EU-Staaten wie Italien würde er auch nicht bieten, heißt es in der ZEW-Studie, die dem Handelsblatt vorliegt. In Auftrag gegeben wurde sie von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die vom Verband Gesamtmetall und anderen Arbeitgeberverbänden finanziert wird.
„Die Analyse zeigt, dass der Next-Generation-Fonds im Hinblick auf seine Stabilisierungsaufgabe fehlkonstruiert ist“, schreibt ZEW-Experte Friedrich Heinemann. „Der Mitteleinsatz von 750 Milliarden Euro würde auf diese Weise weder eine zielgenaue Unterstützung der besonders stark betroffenen Mitgliedstaaten leisten noch einen nennenswerten Anstoß zur Überwindung des Reformstaus in den Ländern mit geringem Potenzialwachstum.“
Der Befund der ZEW-Forscher deckt sich mit der Kritik des Klubs der „Sparsamen Vier“ an dem Hilfspaket: Die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark befürchten, dass mit den Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbauplan vor allem Haushaltslöcher gestopft werden, ohne die Strukturprobleme wachstumsschwacher Länder zu lösen.
Der niederländische Premierminister Mark Rutte und seine Amtskollegen wollen deshalb beim EU-Gipfel am kommenden Freitag eine Verschärfung der Reformauflagen für Empfängerländer durchsetzen. Außerdem dringen sie darauf, den Fonds insgesamt zu verkleinern.
Die Kommission hatte mit Unterstützung Frankreichs und Deutschlands vorgeschlagen, 500 Milliarden Euro nicht rückzahlbare Zuschüsse und 250 Milliarden Euro Kredite an von der Coronakrise besonders stark betroffene Länder zu zahlen. Die „Sparsamen Vier“ sind damit nicht einverstanden. Es solle weniger Zuschüsse und mehr Darlehen geben, verlangen sie.
Kaum betroffene Länder profitieren stark
Die ZEW-Forscher stellen das Volumen des Wiederaufbaufonds zwar nicht infrage, wohl aber dessen Ausgestaltung. Laut Entwurf der EU-Kommission sollen 310 Milliarden Euro als direkte Zuwendung an die Mitgliedstaaten fließen.
Für die Verteilung dieses Betrags legt die Kommission ausschließlich ökonomische Kennziffern aus der Zeit vor der Coronakrise zugrunde: Das Pro-Kopf-Einkommen des jeweiligen Landes im Verhältnis zum EU-Durchschnitt im Jahr 2019 sowie die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den Jahren 2015 bis 2019 relativ zum EU-Mittelwert. „Die tatsächliche Schwere der Corona-Rezession für die relative Begünstigung eines Landes“ spiele also „keinerlei Rolle“, moniert Heinemann.
Das führe dazu, dass von der Coronakrise kaum betroffene Länder wie Polen stark von dem Wiederaufbaufonds profitieren. Dagegen kämen Spanien, Italien und Frankreich vergleichsweise schlechter weg, obwohl ihre Volkswirtschaften laut EU-Prognose um jeweils über zehn Prozent einbrechen.
Die EU-Kommission begründet ihr Vorgehen damit, dass zu Programmbeginn Anfang 2021 noch kein verlässliches Zahlenmaterial über den durch die Coronakrise verursachten Wirtschaftseinbruch vorliegen würde. Das Argument überzeugte auch die Bundesregierung nicht. Sie verlangte eine Korrektur und fand damit bei EU-Ratspräsident Charles Michel Gehör.
Der Belgier legte am vergangenen Freitag einen Kompromissvorschlag vor. Ihm zufolge sollen die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Verteilungskriterien nur für 70 Prozent der Zahlungen gelten. Die restlichen 30 Prozent sollten an die Länder gehen, wo die Wirtschaft in den Jahren 2021 und 2022 am meisten schrumpft.
Das ZEW moniert darüber hinaus, dass ein Teil des Wiederaufbauprogramms in EU-Haushaltsposten fließen soll, die gar nichts mit der Coronakrise zu tun haben, wie etwa die Agrarsubventionen für die Entwicklung des ländlichen Raums oder den „Just Transition Fonds“ zur Abfederung der Klimaschutzkosten. Insgesamt sei „das Begünstigungsmuster weitgehend losgelöst von der ökonomischen Betroffenheit durch die Pandemie“.
Hinzu komme ein weiteres Manko: Schätzungsweise 75 Prozent der Gelder würden erst 2023 oder noch später fließen. Die akute Wirtschaftskrise sei dann hoffentlich längst vorbei. Auch das Problem hat Michel bereits erkannt. Der EU-Ratspräsident verlangt, dass die Mittel ganz überwiegend in den Jahren 2021 und 2022 ausgezahlt werden. Auch Deutschland ist dafür.
Die Konditionalität der Hilfen ist ein weiterer heikler Punkt des Wiederaufbauplans – sowohl für die „Sparsamen Vier“ als auch für die ZEW-Forscher. Der Wiederaufbauplan könne das Wachstumspotenzial der Empfängerländer nur dann erhöhen, wenn sie mit „wirksamen Anreizen für Strukturreformen“ verbunden seien, heißt es in der ZEW-Studie.
Reformempfehlungen zu vage
Doch daran gebe es erhebliche Zweifel. Die Kommission wolle die Hilfen zwar an die Bedingung knüpfen, dass die jeweiligen Regierungen Brüsseler Reformempfehlungen berücksichtigen und dies in nationalen Reformplänen darlegen. Doch die länderspezifischen Reformempfehlungen der EU seien viel zu vage formuliert und könnten daher keinen „wirklichen Veränderungsdruck entfalten“.
Hinzu komme die Grundeinstellung der Kommission, wonach „die Mitgliedstaaten keinerlei Eigenverantwortung für ihre ökonomische und soziale Lage“ in der Coronakrise hätten. Die ZEW-Forscher sehen das anders: Staaten, die in guten Zeiten vorgesorgt und schwierige Strukturreformen durchgesetzt hätten, seien für Krisenzeiten besser gerüstet.
Es habe daher sehr wohl etwas mit der politischen Eigenleistung zu tun, wie ein Land eine schwere Krise verkrafte. Nicht einverstanden ist das ZEW auch damit, dass die Kommission ausgerechnet Länder mit einer hohen strukturellen Arbeitslosigkeit besonders stark finanziell begünstigen will. Regierungen, die Arbeitsmarktreformen unternommen und ihre Erwerbslosigkeit gesenkt hätten, würden damit bestraft.
Sein eigentliches Ziel – eine Stabilisierung der von der Pandemie stark betroffenen Staaten – könne das Wiederaufbauprogramm nur erreichen, wenn die Regierungschefs „gravierende Designfehler in den anstehenden Verhandlungen beseitigen“, so Heinemann. Konkret fordert er, die Verteilungskriterien neu zu fassen.
„Naheliegende Kriterien“ seien der durch die Coronakrise ausgelöste Rückgang des Bruttoinlandsprodukts und der Anstieg der Arbeitslosigkeit eines Mitgliedstaats relativ zum EU-Durchschnitt. Dabei könne man „anfänglich mit Prognosen und Abschlagszahlungen arbeiten, die dann kontinuierlich an die Ist-Daten angepasst werden“.
Mittel aus dem Wiederaufbaufonds für die Agrarpolitik und für den Klimafonds sollten gestrichen werden. Das hier benötigte Geld müsse durch Kürzungen bei anderen EU-Haushaltsposten aufgebracht werden. Nötig seien zudem „verbindlichere Reformauflagen“.
Das findet auch der niederländische Ministerpräsident. Mark Rutte verlangt, dass Hilfsanträge für den Wiederaufbaufonds streng von den EU-Finanzministern kontrolliert und einstimmig beschlossen werden. Das würde bedeuten, dass ein einziges Land mit seinem Veto Hilfszahlungen blockieren könnte. Dass Rutte sich mit dieser Maximalforderung durchsetzt, ist nicht zu erwarten: Die Südeuropäer wollen das auf keinen Fall hinnehmen.