Corona-Modellrechnungen und ihre Grenzen

Ulrich Trottenberg

In den Medien ist seit Beginn der Corona-Pandemie fast täglich von „Modellen“ die Rede, mit denen die Ausbreitung und die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Corona-Virus beschrieben und möglichst auch prognostiziert werden sollen. Solche Modelle haben bei den politischen Entscheidungen über Corona-bezogene Maßnahmen eine wesentliche Rolle gespielt. Seit einigen Wochen werden die Modelle – auch in der seriösen Presse – z.T. heftig kritisiert, weil ihre Prognosen in vielen Fällen nicht eingetroffen sind.

Unter den uns bekannten Modellen sind einige mathematisch anspruchsvoll, sorgfältig konzipiert und vorsichtig in den Prognosen. Neben diesen ausgereiften Modellen werden in den Medien aber auch simple, bisweilen grob vereinfachende und irreführende Modelle kommuniziert. Wir gehen im Folgenden auf die Möglichkeiten und auf die Grenzen mathematischer Modellierung detaillierter ein.

Für die politischen Maßnahmen zur Corona-Eindämmung spielen seit Beginn der Pandemie die Empfehlungen insbesondere der virologischen und epidemiologischen Experten eine wesentliche Rolle. Dabei werden zur Beschreibung und zur Prognose der Ausbreitung der Pandemie oft auch mathematische Modelle benutzt. Die Ergebnisse solcher Modelle werden von (mehr oder weniger kompetenten) Experten gern auch in den bekannten TV-Talkshows präsentiert. Die mit den Modellen errechneten Prognosen haben sich nun aber in vielen Fällen als nicht realistisch erwiesen. Was ist da los? Warum werden die Öffentlichkeit, die Politik und gerade auch die Experten von den tatsächlichen Entwicklungen immer wieder überrascht? Warum gelingt es nicht, zum Beispiel die Inzidenzen einigermaßen präzise vorauszusagen und damit auch die Maßnahmen vorausschauend zu planen? Nun gibt es einerseits mathematisch ausgereifte, höchst anspruchsvolle, andererseits aber auch weniger durchdachte Modelle bis hin zu grob vereinfachenden „Modellen“ und Simulationen. Dass die (bei den Moderatoren der Talkshows besonders beliebten) vereinfachenden Modelle die realen Verhältnisse nicht adäquat beschreiben, ist ja vielleicht nicht weiter verwunderlich. Aber auch die anspruchsvollen, mathematisch durchdachten Modelle kommen oft an Grenzen. Warum sind realistische Prognosen offensichtlich so schwierig?

Mathematische Modelle, das sind Formelsysteme, die mit intelligenten Algorithmen auf schnellen Rechnern ausgewertet werden. Die gesamte Physik wird von mathematischen Theorien und Modellen beherrscht, und das gilt ähnlich auch für alle anderen Natur- und Ingenieurwissenschaften zunehmend werden auch wirtschaftliche und gesellschaftliche, medizinische und psychologische Prozesse mathematisch beschrieben und optimiert.

Warum ist die Mathematik in den naturwissenschaftlich- technischen Bereichen so überaus erfolgreich, bei Corona aber so wenig überzeugend? Die öffentlich diskutierten mathematischen Corona-Modelle und Simulationen können Entwicklungen beschreiben und erklären, aber bei den Prognosen versagen sie in vielen Fällen. Um das verständlich zu machen, gehen wir auf drei repräsentative Beispiele mathematischer Modellierung etwas genauer ein.

  1. Nehmen wir die klassische Physik (und die darauf beruhende Technik). Die meisten Vorgänge der klassischen Physik lassen sich mit mathematischen Gleichungen, in der Regel mit Differentialgleichungen, vollständig erfassen. Ein schönes Beispiel sind die Zustände und Vorgänge der Elektrizität und des Magnetismus. Sie lassen sich mit wenigen mathematischen Gleichungen(in diesem Fall „partiellen“ Differentialgleichungen) sehr hoher Abstraktion beschreiben. Diese „Maxwell-Gleichungen“ bilden das zugehörige mathematische Modell. Die Auswertung dieser Gleichungen mit Hilfe geeigneter Algorithmen erlaubt die Beschreibung, Prognose und Optimierung der elektrischen und magnetischen Phänomene und Prozesse mit hoher Präzision. Die Maxwell-Gleichungen bilden damit auch die theoretische Grundlage der gesamten Elektrotechnik. Hier leistet die Mathematik das Maximum dessen, was man von ihr erwarten kann. Ähnliches gilt für alle Kernbereiche der klassischen und der modernen Physik und für alle ihre technischen Anwendungen. Der Siegeszug der Technik in den letzten 250 Jahren und die industrielle Revolution sind ganz wesentlich ein Siegeszug der mathematischen Modellbildung.
  2. Die Prognosemöglichkeiten kommen aber an Grenzen, wenn es sich bei den Phänomenen, die mit den mathematischen Modellen beschrieben werden, um chaotische Phänomene handelt. Als chaotisch wird ein (physikalisches) System oder Phänomen insbesondere dann bezeichnet, wenn es auf kleine (minimale) Änderungen der Bedingungen in der Ausgangssituation (in den Eingabedaten) mit großen (drastischen) Veränderungen im Verhalten, insbesondere im längerfristigen Verhalten, reagiert. Dafür gibt es eine Fülle von Beispielen, neben sehr einfachen physikalischen Systemen wie dem Doppelpendel auch hochkomplexe Systeme. Das fundamentale Beispiel eines chaotischen Systems, mit dem wir täglich zu tun haben, ist das Wetter. Auch wenn die ausgeklügelten mathematischen Wettermodelle, die feinkörnige weltweite Wetterdatenmessung und -erfassung, die höchst effizienten Algorithmen und die atemberaubende Rechengeschwindigkeit der Supercomputer heute eine erstaunlich genaue Wetterprognose für die jeweils nächsten Tage ermöglichen – deutlich über 10 Tage hinaus ist eine sichere Wettervorhersage (außer bei ungewöhnlich stabilen Wetterlagen) praktisch nicht möglich.

Dabei entziehen sich das Wetter und viele andere chaotischen Systeme und Phänomene wie das genannte Doppelpendel, Crashphänomene, turbulente Strömungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche usw. nicht grundsätzlich einer mathematischen Modellierung. Denn es handelt sich bei solchen Erscheinungen nicht um vollständig zufällige, sondern durchaus um deterministische Ereignisse, bei denen aber eine sichere und längerfristige Vorhersage – insbesondere wegen der hochsensiblen Abhängigkeit von den Ausgangsdaten – nicht möglich ist.

Auch ohne die Corona-Phänomene vollständig verstanden zu haben, kann man nach Einschätzung des Autors heute davon ausgehen, dass chaotische Elemente bei der Übertragung der Viren, der Wirkung auf den menschlichen Körper und der globalen Ausbreitung der Pandemie durchaus eine Rolle spielen.

  1. Die Vorhersagemöglichkeiten sind noch weiter eingeschränkt, wenn man es mit individuellem menschlichem Verhalten und mit menschlichen Entscheidungen in kritischen Situationen zu tun hat, wie bei der Corona-Pandemie.   Da sind dann oft nur statistische Erfassungen, Beschreibungen und Aussagen möglich. Aber auch solche Phänomene kann man mit mathematischen Modellen zu beschreiben versuchen. Uns sind in den Medien, insbesondere in den TV-Talkshows (Illner, Maischberger, Will; Lanz usw.) die Ergebnisse solcher Modelle immer wieder präsentiert worden, von meist den gleichen, mittlerweile bundesweit bekannten Modellierern. Detailliertere Informationen über den mathematischen Charakter der Modelle hat man in den Medien dabei nicht erhalten – das verhindern schon die (meist ganz und gar nicht Mathematik-affinen) Moderatorinnen und Moderatoren. Eine Bewertung der Modelle ist allerdings auch bei genauer Kenntnis der Modell-Mathematik nicht einfach; letztlich werden die Modelle erst durch die Realität bestätigt (oder widerlegt).

Der Autor hat sich nur mit einem Modellierungsansatz („On COVID-19 Modelling“ von Robert Schaback) genauer auseinandergesetzt. Das Modell beschreibt die COVID-19-Epidemie mit einem (gemäß Robert Schaback vergleichsweise einfachen) System gewöhnlicher Differentialgleichungen. Aus Sicht des Autors ist das Modell sehr sinnvoll und überzeugend, es orientiert sich eng an den jeweils aktuellen, verfügbaren Daten. Demgegenüber erfasst z.B. das ebenfalls überzeugende Modell des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM (Anita Schöbel et al.) auch die zeitlichen Verzögerungen bei der Corona-Übertragung. Die ernst zu nehmenden Modelliererinnen und Modellierer betonen, dass die Qualität der modellbasierten Vorhersagen sensibel von den jeweils verfügbaren Daten abhängt; deren Verfügbarkeit wird allerdings als häufig sehr unzureichend bezeichnet.

Differentialgleichungen modellieren das epidemische Geschehen eher makroskopisch, also gewissermaßen durch globale Betrachtung der Pandemieausbreitung, ähnlich einer Strömung oder einer Flut. Vom den einzelnen Individuen wird dabei abstrahiert. Daneben werden aber auch fundamental andere Modellierungsansätze verfolgt. Bei sogenannten „agentenbasierten“ Ansätzen wird z.B. versucht, das Verhalten und die Entscheidungen der einzelnen Individuen und die Auswirkungen dieser Entscheidungen auf das Gesamtsystem mathematisch zu erfassen. Ob diese Ansätze erfolgversprechender sind als die makroskopischen Ansätze, kann der Autor nicht fundiert beurteilen; er ist eher skeptisch.

Von Modellierern und Kommentatoren wird gelegentlich argumentiert, dass die politisch veranlassten Lockdown-Maßnahmen und Einschränkungen effektiver gewesen wären, wenn die Politik die Modellprognosen ernster genommen hätte. Das mag im Einzelfall zutreffen. Aber selbst bei intimer Kenntnis der zugrundeliegenden Mathematik ist eine objektive Bewertung der unterschiedlichen Modellansätze und Modellprognosen nicht einfach. Die Experten und Modellierer haben sich in vielen Fällen auch nicht einheitlich geäußert. Besonders deutlich sind die unterschiedlichen Positionen und fragwürdigen Empfehlungen der Experten bei den Impfstrategien geworden – mit der Folge einer fatalen Verunsicherung der Öffentlichkeit.

Schließlich: Dass mathematische Modellierungsmöglichkeiten in Extremsituationen und Katastrophen an prinzipielle Grenzen kommen, dafür ist der überaus tragische Verlauf der Loveparade in Duisburg im Jahre 2010 ein erschütterndes Beispiel.