(Morning Briefing) – Die womöglich größte Fehlentscheidung der deutschen Politik war der Ausstieg aus der Atomenergie. Die Angst vor einem deutschen Tschernobyl und die nicht triviale Frage der atomaren Endlagerung führten im Juni 2011 zu einem abrupten Ausstiegsbeschluss des Deutschen Bundestages, der nun exekutiert wird. Das Ergebnis:
- Der deutsche Energiemix wird schmutziger, weil Kohle und Gas und nicht Sonne und Wind die Kernenergie ersetzen. Deutschland wird nach dem vollendeten Atomausstieg rund 70 Millionen Tonnen klimaschädliches CO2 zusätzlich ausstoßen.
- Der Staat muss den Energiekonzernen 2,43 Milliarden Euro als Entschädigung zahlen.
- Deutschland wird immer stärker zum Energieimporteur und muss nun den Atomstrom der Franzosen und das Gas aus Russland für teures Geld einführen.
Das politische Establishment will an dem Ausstiegsbeschluss nicht rütteln, zumal die Grünen an dieser Stelle empfindsam sind. Der Anti-AKW-Bewegung verdanken sie ihren Gründungsmythos.
Die Bevölkerung ist weniger sentimental: Noch ist die Forderung nach einem Weiterbetrieb der sechs deutschen Kernkraftwerke nicht mehrheitsfähig. Aber: Im Jahr 2012 waren laut Allensbach noch 73 Prozent der Bevölkerung für den Atomausstieg. 2021 sind es nur noch 56 Prozent. Das heißt: Die Mehrheit für den Atomausstieg ist nicht dahin, aber sie schwindet.
Aus der Erhebung, die Anfang Mai 2021 erstellt wurde, geht hervor, dass bedeutsame Teile der deutschen Gesellschaft auf Wanderschaft sind:
- 28 Prozent der grünen Wähler sind mittlerweile im Interesse des Klimaschutzes für einen Energiemix aus Kernenergie und Erneuerbaren.
- Und: Die Wähler der FDP sind am ehesten bereit, ihre Haltung zu revidieren: 63 Prozent der FDP-Wähler sind dafür, der Kernenergie im Konzert mit den Erneuerbaren eine zweite Chance zu geben.
Nahezu die ganze entwickelte Welt setzt auf die Kernenergie, die sich als CO2-freie und kostengünstige Alternative zu Kohle und Gas anbietet und anders als Sonne, Wind und Wasser auch grundlastfähig ist, also nicht von den Launen der Natur abhängt. Die Ausbaupläne der großen Staaten sehen derzeit so aus:
- USA: Zusätzlich zu den 93 laufenden Reaktorblöcken in 56 Atomkraftwerken sind drei in Planung, zwei befinden sich bereits im Bau. Präsident Joe Biden plant bis 2035 einen CO2-freien Stromsektor – das Abstellen der Kernkraftwerke ist für ihn keine Option.
- Frankreichs Präsident Macron hat diese Woche angekündigt, eine Milliarde Euro in Mini-Atomkraftwerke – sogenannte Small Modular Reactors (SMR) – investieren zu wollen. Diese seien sicherer und erschwinglicher als bisherige Modelle und in modularer Bauweise vom Band erhältlich.
- In Großbritannien befinden sich zwei Atomkraftwerke im Bau, zwei weitere sind geplant.
- Japan betreibt auch nach Fukushima noch 33 Reaktoren, zwei weitere befinden sich im Bau. Zur Bekämpfung des Klimawandels will man an der Atomkraft festhalten.
- Putin geht aufs Ganze: Russland plant in den kommenden Jahren 27 neue Atomreaktoren zu bauen.
- Auch in China laufen Reaktoren scheinbar unerschöpflich vom Band. 18 Meiler werden aktuell gebaut, 37 weitere sind geplant. Dabei erfinden die Chinesen die Atomenergie neu: Statt wie die meisten Atomkraftwerke mit Uran betrieben, wird derzeit ein Schmelzsalzreaktor mit flüssigem Thorium getestet. Günstiger und ohne die Gefahr eines GAUs.
Fazit: Die Atom-Diskussion muss im Lichte des Klimawandels und angesichts der Weiterentwicklung der AKW-Sicherheit neu geführt werden. Scheuklappen tragen Pferde, nicht Menschen. Oder wie der Ökonom John Maynard Keynes sich einst ausdrückte:
„Ändern sich die Fakten, ändere ich meine Meinung.“