Abschied von Ludwig Erhards Ideen der sozialen Marktwirtschaft ?

(Morning Briefing) – Die großen Verlierer der Coronakrise sind Ludwig Erhard und die von ihm formulierten Grundsätze der Ordnungspolitik. Die Idee, dass der Staat in der Wirtschaft als Schiedsrichter, nicht aber als Sturmspitze auftritt, wurde ohne Aussprache suspendiert. Tabus werden gebrochen, geradezu lustvoll, wie es scheint. Das Mastermind hinter der Pandemiebekämpfung ist nicht Erhard, sondern Kevin Kühnert.

► Seit 2014 hielt die Große Koalition am Kurs der Schwarzen Null fest – einem Haushalt ohne Neuverschuldung. Dann kam die Coronakrise – und das abrupte Ende der Schuldenbremse aus Artikel 109 des Grundgesetzes. Addiert man alle jetzt frei gezeichneten Ausgaben zusammen, geht Bundesfinanzminister Olaf Scholz ein zusätzliches Risiko in Höhe von rund 750 Milliarden ein – das entspricht mehr als 200 Prozent des bisherigen Haushaltsbudgets.

► Die sogenannte No-Bail-Out-Klausel (Nichtbeistandsklausel) im Artikel 125 des EU-Vertrags besagt, dass ein EU-Mitgliedstaat nicht für einen anderen Staat finanziell haften darf. Doch das wird in der Stunde der europäischen Not negiert. Die südeuropäischen Schuldenstaaten brauchen jetzt keine Eurobonds, denn sie haben den mehrfach aufgestockten Euro-Rettungsschirm ESM. Dieser hat nach Angaben seines Chefs Klaus Regling noch 410 Milliarden Euro an Kreditlinien zur Verfügung.

► Die Europäische Zentralbank wollte sich schrittweise aus der Staatsfinanzierung und dem Marktgeschehen zurückziehen – in ihren Büchern befinden sich mittlerweile Staatsanleihen und Aktien im Wert von bald 2,8 Billionen Euro. Doch dank Corona gehts jetzt erst richtig los. Eben hat die Zentralbank ein Notkaufprogramm für weitere 750 Milliarden Euro beschlossen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde:

Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliches Handeln.“

► Der Unternehmer trägt das Risiko seines Handelns, sagt Erhard, denn Risiko und Verantwortung dürfen nicht entkoppelt werden. Dieser Grundsatz gilt nun nicht mehr. Der Staat bürgt, bezuschusst und kreditiert auf Teufel komm raus: 100 Milliarden Euro für Kapitalmaßnahmen, 400 Milliarden Euro für Bürgschaften, weitere 100 Milliarden Euro für Staatsbeteiligungen, 50 Milliarden Soforthilfen für Soloselbstständige und Kleinunternehmen stehen zur Verfügung. Die neue Hemmungslosigkeit begründet Olaf Scholz so:

Es gibt keine Grenze nach oben.“

► Die Gewerbefreiheit, ein Essential der Marktwirtschaft, wurde aufgehoben. Firmen müssen Zwangspausen einlegen. Die Mode in den Lagern der Textilbranche ist aus dem Trend, bevor die Saison überhaupt angefangen hat. Vom Café um die Ecke über Einzelhändler bis hin zum familienbetriebenen Mittelstand wird um die Existenz gekämpft. Der erhabene Satz des Ludwig Erhard gilt nicht mehr:

Der Markt ist der einzige demokratische Richter, den es überhaupt in der modernen Wirtschaft gibt.“

► Die Vertragsfreiheit der Arbeitnehmer ist außer Kraft gesetzt. Statt am Fließband, im Büro oder Verkauf zu stehen, sitzen sie nun zu Hause. Der Staat zahlt ihnen Kurzarbeitergeld – im März gingen mit bald einer halben Million Anträgen so viele Ersuche wie in den vergangenen zwölf Jahren zusammen ein. Gegen ihren Willen wird das bedingungslose Grundeinkommen für viele Menschen zur Wirklichkeit.

► Das Recht auf Eigentum, in Artikel 14 des Grundgesetzes geregelt, gilt noch – aber mit Einschränkungen. Die Zweitwohnung und das Ferienhaus dürfen derzeit nicht betreten werden. Auch die Verfügungsgewalt über Gaststätten, Theater, Sportstätten und Einzelhandelsgeschäften ist massiv durch die Notverordnungen eingeschränkt. Der Kapitalist ohne die Möglichkeit der Kapitalakkumulation hört nach Karl Marx auf, ein Kapitalist zu sein.

► Der direkte Eingriff in privatwirtschaftlich geführte Unternehmen, wie einst von Kevin Kühnert angeregt, ist jetzt groß in Mode: Mit der Lufthansa wird derzeit intensiv über eine Staatsbeteiligung verhandelt, um die Airline vor dem unverschuldeten Absturz zu bewahren. Weitere Firmen dürften folgen, die der Staat aufrichtet, nachdem er sie in die Knie gezwungen hat.

Fazit: Was wir jetzt Rettung nennen, werden wir bald als Verwerfung erleben. Die neue Normalität einer staatlich gezauberten Wohlstandskulisse ist eine Normalität auf Abruf. Der Preis für die Rettung der Marktwirtschaft ist womöglich ihre Zerstörung.

Gabor Steingart