Lieber Ulrich,
ich habe mir erlaubt, Deinen klugen Artikel auf meiner Homepage zu veröffentlichen. Ehrlich gesagt, ich bewundere Deine Bemühungen, aber das ist Sisyphus-Arbeit. Mittlerweile geistern in unserer Sprachwelt herum, die häufig nicht den Anspruch der Wissenschaft überhaupt nicht mehr verfolgen, das ist eine Art Zeitgeist, nur noch Emotionalisieren wollen. Das liegt daran, dass Verständnis für naturwissenschaftliche Phänomene in der Kohorte Deutschland immer mehr abgenommen hat. Immer dann, wenn Unverständnis die Massen bewegt, tritt die Emotion in den Vordergrund. Das ist auch der Grund, weshalb Verschwörungstheorien auf fruchtbaren Boden fallen und letztlich unsere Demokratie gefährden.
Ich stinke nach Möglichkeit bei Facebook dagegen an, aber selbst in meiner Familie ist es schwer, meine Frau davon zu überzeugen. Ich erlebe in der Kleingruppe das, was sich in der Gesellschaft immer mehr ausbreitet. Als empirischer Soziologe erkenne ich die großen Probleme, die aus diesem Verhalten für die Akzeptanz von Wissenschaft und Technik aber auch für die Vernunft in der Politik erwachsen. Leider ist es so, dass ein steter Tropfen gar nicht mehr den Stein höhlt, die physikalische Erkenntnis wird einfach wegewischt. Selbst bei Ergebnissen der reinen Mathematik erwartet das Wählervolk eine zweite oder dritte Meinung zu akzeptieren – zweimal vier ist noch lange nicht acht – selbst daran wird gerüttelt.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, ich gebe jedenfalls nicht auf, und Du ja auch nicht, doch wir können mit unseren Bemühungen keine Lorbeeren ernten.
Kopf hoch
Herzlichst
Dein Jean
Der Irrtum von exponentiellem Wachstum von Corona
Stellungnahme des kompetenten Mathematikers Prof. Dr. Ulrich Trottenberg
Exponentiell UT, 4.05.21
Das hätte vor zwei Jahren keiner erwartet: Ein mathematischer Begriff hat beste Chance das Modewort des Jahres 2020 zu werden. Und auch wenn exponentiell nicht offiziell zum Modebegriff des Jahres gekürt wird: Durch seinen ständigen Gebrauch in allen Medien, bei „Experten“ und Politikern, aber auch bei Menschen, die ihre mathematische Inkompetenz gern zur Schau stellen und damit kokettieren, wird es zu einem zentralen Begriff der Corona-Pandemie.
Nur schade, dass es meist falsch gebraucht und missverstanden wird. Exponentiell ist mathematisch wohldefiniert (s. zB [ISAfA-Blog]), wird aber mittlerweile umgangssprachlich für alles Mögliche benutzt und nur selten für exponentielles Wachstum im engeren Sinne, für exponentielle Abnahme eigentlich nie. Praktisch immer dann, wenn Inzidenzzahlen steigen, ist von exponentiellem Wachstum (der Fallzahlen) die Rede. Und damit ist gemeint, die Zahlen wachsen schnell, schneller als man mit linearem Wachstum (s. [ISAFA-Blog]) beschreiben könnte.
Dabei kann lineares Wachstum viel dramatischer sein als exponentielles. Denn man betrachtet die Inzidenzen ja oft nicht über große Zeiträume, und für kleine Zeiträume ist exponentielles Wachstum nur kritisch, wenn die Exponenten groß sind.
Durch den inflationären Gebrauch des Begriffs exponentiell, auch durch mathematisch hochgebildete Menschen wie die Kanzlerin, werden die tatsächlichen Verhältnisse oft dramatisiert, auf jeden Fall relativiert. „Echtes“ exponentielles Wachstum, mit zB einem Exponent 2 (Verdoppelung) innerhalb einer Woche, ist in der Tat dramatisch und höchst bedrohlich. Aber ein Exponent größer als, aber in der Nähe von 0 (das entspricht einer Reproduktionszahl größer als, aber in der Nähe von 1) sollte nicht dramatisiert werden, er bedeutet nur: Es wird nicht besser. Aber sobald die Reproduktionszahl stabil in der Größenordnung von zB 0,7 liegt, das entspricht einem Exponenten deutlich kleiner als 0, darf man sich freuen: Es wird exponentiell besser!