Bilanz in die Zukunft: Die deutsche Gerechtigkeitsdebatte hat System

Ein kluger Zeitgenosse, Wolfgang Bok, deckt viele Widersprüche der heutigen Wirtschaftssozialpolitik auf. Sehr lesenswert!

(NZZ) – Im Superwahljahr brauchen Grüne, SPD und Linkspartei möglichst viel Ungleichheit, um mit «Reichensteuern» und Vermögensabgaben zu punkten. Die wahren Ursachen für den teilweisen Nicht-Wohlstand werden selten thematisiert.

Das Buch «Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können» der Journalistin Julia Friedrichs kommt wie bestellt. Rechtzeitig zum Superwahljahr führt die junge Autorin Klage darüber, dass der soziale Aufstieg durch Erwerbsarbeit in Deutschland kaum mehr möglich sei. Auf 323 Seiten werden allerhand Daten und Betroffenheit als Belege dafür angeführt, warum es der Mittelschicht nicht mehr zu Wohlstand reiche. Schuld seien Globalisierung, Deregulierung, Finanzkapitalismus und natürlich eine unsoziale Politik. So weit, so bekannt – und nicht ganz falsch.

Der Sound passt zur Stimmungslage, die da stets aufs Neue intoniert wird: Das «reiche Deutschland» leiste sich viel Armut. Um die Dramatik zu unterstreichen, wird neuerdings ein statistischer Trick angewandt: Nicht tatsächliche materielle Not ist das Kriterium, denn die ist laut Statistischem Bundesamt 2018 auf den Tiefststand von 3,1 Prozent gesunken. Auch ist die Zahl der Bezieher von Hartz IV, Grundsicherung oder Asylbewerberhilfe zurückgegangen. Also wird eine mögliche «Armutsgefährdung» konstruiert. Betroffen ist bereits, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens leben muss. Würde über Nacht ein Geldregen über Deutschland niedergehen und jedermanns Vermögen verzehnfachen, so würde sich an der statistischen Armutsgefährdungsquote nichts ändern.

Hausgemachte Probleme

Soziale Gerechtigkeit ist ein Dauerthema in Deutschland. Wollte Ludwig Erhard noch «Wohlstand für alle» schaffen, so geht es heute vor allem darum, die Unterschiede zwischen Arm und Reich einzuebnen. Grüne, SPD und Linkspartei, die im Herbst auf einen Machtwechsel in Berlin zusteuern, brauchen möglichst viel Ungleichheit, um ihre Forderungen nach «Reichensteuern» und zusätzlichen Vermögensabgaben zu rechtfertigen. Gerne garniert mit einem Bürgergeld oder einer Garantiesicherung, die auch jenen zustehen soll, die nicht arbeiten wollen.

Über die banale Forderung nach Umverteilung von oben nach unten kommt die deutsche Gerechtigkeitsdebatte selten hinaus. Auch das hat System: Die wahren Ursachen dafür, warum die untere Hälfte der Bevölkerung in relativem Nicht-Wohlstand verharrt, werden selten thematisiert. Denn zu Ende gedacht, würde man dann auch bei jenen als Schuldigen landen, die über die «ungerechten Verhältnisse» am lautesten klagen. Sie betreiben in Wahrheit eine Umverteilung von unten nach oben.

Ohne Eigentum bleibt man ewig Mieter

Am Beispiel der steigenden Mieten und hochschiessenden Immobilienpreise wird dies besonders deutlich: Obwohl in Deutschland nur 14,4 Prozent der 357 000 Quadratkilometer als Siedlungs- und Verkehrsfläche ausgewiesen sind, haben die Grünen dem «Flächenfrass» den Kampf angesagt. Wo immer sie das Sagen haben, werden neue Baugebiete verhindert. Einfamilienhäuser sollen möglichst gar nicht mehr erlaubt sein. Diese politisch gewollte Verknappung treibt die Preise drastisch in die Höhe. Ein ausuferndes Baurecht und immer strengere Energieeinsparauflagen sorgen zusätzlich dafür, dass sich auch gutverdienende Mittelschichtsfamilien den Traum von den eigenen vier Wänden abschminken können. Nutzniesser sind die Besitzer von Grundstücken und Immobilien. Eine Dynamik von weniger Angebot und mehr Nachfrage (auch durch Zuwanderung) lässt ihr Vermögen wachsen. Was wiederum den beklagten Graben zwischen Arm und Reich vertieft.

Ohne Eigentum bleibt man ewig Mieter und damit von einer Vermögensbildung fürs Alter abgeschnitten. Hier ist Deutschland mit einer Eigentumsquote von unter 50 Prozent ohnehin Schlusslicht. Der Bonner Wirtschaftshistoriker Moritz Schularick hat errechnet, dass die ärmsten 20 Prozent der deutschen Haushalte mittlerweile fast 40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben. 1993 seien es noch 23 Prozent gewesen.

Dieser Personenkreis ist es auch, der unter den hohen Energiepreisen zu leiden hat: Den Strompreis können sich jährlich an die 350 000 Haushalte nicht mehr leisten, und die Stromzufuhr wird ihnen abgedreht. Zwei Millionen Menschen in Deutschland fehlt laut Statistischem Bundesamt das Geld, um die eigene Bleibe ausreichend zu heizen. Selbst der Bundesrechnungshof rügt diese einseitige Belastung in seinem neusten Bericht. Dennoch wollen Grüne und SPD die Preise für Strom, Gas, Benzin und Heizöl weiter nach oben treiben. Das soll den Klimawandel bremsen, obwohl Deutschland kaum zwei Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoss beiträgt.

Nutzniesser dieser Energiewende sind wiederum jene Vermögenden, die über Dächer und Grundstücke für Solarplantagen und Windräder verfügen oder viel Geld in hochrentierliche «grüne Fonds» stecken. Sie können sich auch die teuren E-Autos leisten, derweil dem werktätigen Pendler sein alter Diesel verleidet wird, den er dringend zum Broterwerb braucht. Auch so wird den Armen genommen und den Reichen gegeben.

Europas Grosssponsor

So geht es geradezu fort mit der grün-roten Umverteilung. Während zu Hause das Geld fehlt, um insbesondere den abhängig Beschäftigten mehr Netto vom Brutto zu lassen, gibt man sich in Europa als Grosssponsor. Entgegen der eindeutigen Rechtslage erklärt der Finanzminister Olaf Scholz eine Schuldenunion zum politischen Ziel. Der Kanzlerkandidat der SPD, der einen Amtseid zum Wohle des deutschen Volkes geleistet hat, nimmt also die eigenen Steuerzahler in Haftung, um die deutlich wohlhabenderen Bürger in Italien, Spanien oder Frankreich vor unangenehmen Reformen zu bewahren.

Mit einem Medianvermögen von netto gerade einmal 61 000 Euro sind die Deutschen sogar ärmer als die Griechen, denen sie mit vielen Milliarden helfen mussten. Der EU-Schnitt liegt bei 100 000 Euro. Zugleich hat das Land unter der Regierung Merkel nicht nur die Spitze der Steuer- und Abgabenbelastung unter den OECD-Ländern erklommen, sondern hier trägt die arbeitende Mittelschicht mit 27,17 Prozent auch am meisten zum Steueraufkommen bei. Alle Versprechen, insbesondere die unteren Einkommensschichten spürbar zu entlasten, sind Makulatur.

Tabuthema Migration

Völlig ausgeblendet wird in der deutschen Gerechtigkeitsdebatte das Thema Migration. Selbst in offiziellen Studien wie dem «Sozialreport 2021» wird allenfalls am Rande zwischen heimischer und importierter Armut unterschieden. Als einer der wenigen namhaften Politiker hat einzig Friedrich Merz gefordert, in die Debatte um Wohlstandsunterschiede die Tatsache einzubeziehen, dass man ohne die Zuwanderung der Jahre 2015/16 in die Sozialsysteme «eine Million Hartz-IV-Empfänger weniger» hätte. Doch der Ruf nach mehr Transparenz wurde umgehend als Rassismus diskreditiert. Dabei hat der konservative Merkel-Widersacher die Fakten auf seiner Seite. Von den damals 5,52 Millionen Hartz-IV-Empfängern haben rund zwei Millionen keinen deutschen Pass. 980 000 werden der Personengruppe «Asylbewerber» zugeordnet.

Auch der jetzt vorgelegte Bericht des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung spricht eine klare Sprache: Vor allem die Zuwanderung von bildungsfernen Schichten aus Afrika und Arabien sowie deren deutlich höhere Geburtenrate hätten dazu geführt, dass die Bevölkerung in Deutschland nicht geschrumpft, sondern auf die Rekordmarke von rund 83 Millionen gestiegen sei. Jeder vierte der insgesamt 416 000 Asylanträge, die 2020 in allen 27 EU-Staaten gestellt wurden, ging bei deutschen Behörden ein. Die allermeisten Bezüger bleiben dauerhaft auf Transferzahlungen angewiesen.

Derweil verliessen in den letzten zehn Jahren rund 500 000 Hochqualifizierte das Land, um einer Abgabenlast zu entgehen, die nach dem Willen von Grünen, SPD und Linkspartei für die sogenannten Besserverdiener noch weiter steigen soll. Auch so wird eine soziale Schieflage erzeugt. Doch davon liest man auch bei Julia Friedrichs kein Wort.