Zu viele Feinde der offenen Gesellschaft – Mit einer Bemerkung von Jean Pütz

Den Anfangsworten von Gabor Steingart in seiner ‚Morning Briefing vom 23.06.2020 möchte ich mich intensiv anschließen. Leider versucht auch die sonst lesenswerte linksorientierte `TAZ` sich mit Äußerungen wie z. B. die Polizei in den Bereich von Müllabfall zu katapultieren auf dem Gebiet der Verunglimpfung. Sie ist leider damit nicht allein, gleiches geschieht in der extremen Rechten und noch viel schlimmer in der noch freien Gesellschaft der USA mit ihrem Präsidenten Donald Trump, der sich permanent auf dem Niveau der halbstarken Jugend rund um die 16jährigen bewegt.

Ihr Jean Pütz

(Morning Briefing) – Die Meinungsfreiheit ist ein so hohes Gut, dass man sie nicht allein ihren Verteidigern überlassen darf. Wer bewusst das Unsagbare sagt, wer in böser Absicht die sprachliche Entgleisung pflegt, wer – um mit Peter Sloterdijk zu sprechen – „die Einspritzung mentaler Infektionen“ als Geschäftsmodell betreibt, um an den Börsen der Aufmerksamkeitsökonomie eine Kursrally auszulösen, der missbraucht alle Gutgläubigen als menschliches Schutzschild.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es im Grundgesetz – und das nicht zufällig an erster Stelle. Die „taz“-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah, die Polizisten auf Abfallhalden entsorgen möchte.

Der Satiriker Jan Böhmermann, der den türkischen Präsidenten des Kindesmissbrauchs bezichtigte …

… und AfD-Veteran Alexander Gauland, der die industrielle Vernichtung der europäischen Juden als „Vogelschiss“ der Geschichte bezeichnete, haben jeder auf seine Art den Zentralwert unserer Verfassung – die Würde des Anderen – mit Füßen getreten.

Sie spielen mit kühl kalkulierter Vorsätzlichkeit die Freiheit der Meinung gegen die Würde des Menschen aus, wissend, dass in der Wüste der Würdelosigkeit die Freiheit nicht gedeihen kann. Sie verlassen sich darauf, dass ihre Gegner sie verteidigen, und sei es nur deshalb, um ihnen nicht ähnlich zu werden.

Der gute Demokrat hört zu, aber hasst nicht. So haben wir es gelernt. Seine Waffe sei das Wort, nicht der Polizeiknüppel. „Ungehindert, robust und offen“ soll der öffentliche Diskurs geführt werden, wie es in einem richtungsweisenden Urteil des U.S. Supreme Court von 1964 heißt, das sich mit der „New York Times“ befasste.

Die Meinungsfreiheit wird auch von deutschen Verfassungsrechtlern als „unbequemes“ Grundrecht klassifiziert, das selbst Meinungen schützt, die wir zutiefst ablehnen.

Es war Ralf Dahrendorf, der auf der „Tendenzwende“-Konferenz im November 1974 sagte, „dass ein richtiger Gedanke, bis zum Extremen getrieben, gerade diejenigen Möglichkeiten zerstört, die er eigentlich eröffnen sollte.“ Genau das ist der Meinungsfreiheit im Westen passiert.

Ins Extreme getrieben, bringt sie Unverständliches und Unwürdiges, oder wie im Fall von Yaghoobifarah, Böhmermann und Gauland geschehen, auch Unbeseeltes hervor. Die Meinungsfreiheit wurde hier als Freibrief für das Abscheuliche und wie im Fall der drei vorher genannten auch als Freibrief für das objektiv Falsche missbraucht. Zuweilen wird die offene Gesellschaft nicht durch ihre Feinde, sondern durch ihre Freunde bedroht. Oder anders ausgedrückt: Wer die Meinungsfreiheit auch im Falle ihres Missbrauchs verteidigt, hat sie im Grunde verraten.