Zellen durchlaufen von ihrer Geburt bis zum Tod ein wechselvolles Schicksal, das man mittlerweile durch Einzelzellgenomik in großen Populationen erfassen kann. Doch dadurch wird die Zelle zerstört und Rückschlüsse auf ihre Dynamik in der Entwicklung sind schwer. Forschende des Helmholtz Zentrums München und der University of Massachusetts adressieren diese Herausforderung durch Pseudodynamics: einem mathematischen Modell, welches aus Zeitreihen von Einzelzellbeobachtungen die Entwicklungsprozesse der Zellen abschätzt. Ihre Publikation ist in ‚Nature Biotechnology‘ erschienen.
Stammzellen* tragen im Kern die DNA als Bauplan aller Organe oder Gewebe. Aus ihnen können sich beispielsweise Zellen der Haut oder des blutbildenden Systems entwickeln. Die neu entstandenen Zellen erfüllen im Körper je nach Art spezifische Aufgaben. Sie teilen sich weiter (Proliferation), reifen, altern und gehen schließlich per Apoptose** zugrunde. „Wir haben uns in dem Zusammenhang zwei Fragen gestellt“, so Prof. Dr. Dr. Fabian Theis, Direktor des Institute of Computational Biology (ICB) am Helmholtz Zentrum München und Professor für Mathematische Modellierung biologischer Systeme an der Technischen Universität München (TUM): „Welche Faktoren bestimmen den endgültigen Zelltyp, so dass sich beispielsweise eine Hautzelle bildet? Und wie entwickelt sich die Anzahl der Zellen eines Typs in einem Organ, damit zum Beispiel unser Immunsystem die richtige Anzahl an T-Zellen hat? Diese beiden Fragen hängen direkt zusammen. Wir wollten Sie deshalb innerhalb eines globalen Modells beantworten.“
Überlegungen dieser Art sind am ICB nicht neu. Schon früher haben die Forscherinnen und Forscher mit Hilfe von Transkriptom-Daten aufgedeckt, wie die Bildung verschiedener Typen von Blutzellen aus Blutstammzellen reguliert wird.*** Sie entwickelten einen Algorithmus namens „Diffusion Pseudotime“, mit dem sie rekonstruieren konnten, welche Gene nacheinander abgelesen werden und wie sich die Entwicklungspfade der unterschiedlichen Zelltypen verzweigen. Dank dem neuen mathematischen Modell Pseudodynamics wird in Zukunft die Interpretation solcher Ergebnisse vereinfacht.
Einblicke in experimentell kaum fassbare Zeitpunkte
„Wir haben Pseudodynamics als neues mathematisches Modell entwickelt, um das Schicksal von Zellen zu simulieren“, berichtet David Fischer vom ICB, der gemeinsam mit Anna Fiedler Erstautor der Studie ist. „Dabei werden auch Faktoren wie die Größe einer Zellpopulation und deren Veränderung innerhalb einer Zeitreihe berücksichtigt. So können wir Selektionsdruck und die Neubildung von Zellen als Parameter schätzen und den Entwicklungszustand an neuen Zeitpunkten vorhersagen.“ Fischer: „Mit unserem Modell können wir entscheiden, wie Zellproliferation und -tod über verschiedene Stadien des gesamten Entwicklungszyklus reguliert werden und wie stark diese Steuerung tatsächlich ist.“
Das Forscherteam, zu dem neben Prof. Theis und den beiden Erstautoren auch Dr. Jan Hasenauer (ICB) sowie Prof. Dr. Heiko Lickert vom Institut für Diabetes- und Regenerationsforschung (IDR) am Helmholtz Zentrum München und PhD Rene Maehr, UMASS Medical School, University of Massachusetts, gehörten, testeten Pseudodynamics bei T-Zellen (Zellen des Immunsystems) und Betazellen (Zellen der Bauchspeicheldrüse). Ihr Tool beschrieb sowohl die Proliferations- als auch die Apoptoserate dieser Zellen. Sterben viele Betazellen ab, führt dies zu Typ-1-Diabetes. „Mechanismen, die zu Proliferation und Tod führen, sind, basierend auf den derzeitigen Daten, oft schwer auseinanderzuhalten“, erklärt Theis. Er sieht Pseudodynamics als „erstes Tool der Grundlagenforschung, um entscheidende Fragen der Biologie auf Ebene einzelner Zellen zu untersuchen“.
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Originalpublikation
Fischer DS, Fiedler AK et al (2019): Inferring population