Chirurgen-Präsident fordert Widerspruchslösung in der Organspende
„Deutschland profitiert in unangemessener Form von seinen Nachbarländern“
Berlin
– Deutschland liegt bei den Organspenden auf einem der hintersten
Plätze in Europa, täglich sterben drei Patienten auf der Warteliste. Um
die Situation zu verbessern, fordert der Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie (DGCH), Professor Dr. med. Matthias Anthuber,
die doppelte Widerspruchslösung. Sie ist in vielen Nachbarländern
bereits üblich. „Deutschland importiert viel mehr Organe aus dem
Ausland, als es einbringt. Wir verschlechtern somit die
Transplantationschancen von Patienten auf ausländischen Wartelisten“,
erklärte Anthuber auf der Jahrespressekonferenz der DGCH.
Die
doppelte Widerspruchslösung sieht vor, dass automatisch jeder als
Spender gilt – sofern er nicht zu Lebzeiten ausdrücklich „Nein“ gesagt
hat. Im Sinne einer doppelten Schranke sind zudem die Angehörigen zu
befragen, die eine Organentnahme bei fehlendem Widerspruch immer noch
ablehnen können. Diese Regelung wird nach Auskunft der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung europaweit bisher in Belgien, Estland,
Finnland, Litauen und Norwegen praktiziert. In Deutschland sind
Organentnahmen derzeit nur bei ausdrücklicher Zustimmung erlaubt.
Die
radikalere Form der Widerspruchslösung ist stärker verbreitet. Sie gilt
in Bulgarien, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Liechtenstein,
Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, der Slowakei,
Slowenien, Spanien, Tschechien, der Türkei, Ungarn und Zypern. In der
Praxis werden bei fehlendem Widerspruch aber auch in den meisten dieser
Länder vor einer Organentnahme erst einmal Angehörige befragt.
„Überall
dort, wo Organspende auf der gesetzlichen Grundlage der sogenannten
Widerspruchslösung geregelt ist, sind die Organspendezahlen deutlich
höher als in Ländern mit Zustimmungs- oder Entscheidungslösung“,
erläutert Anthuber. Der DGCH-Präsident geht davon aus, dass sich die
Menschen in Deutschland durch die Gesetzesänderung in einem höheren Maße
als bisher mit Fragen der Organspende und -transplantation
auseinandersetzen und in der Folge die Spende-Raten ansteigen würden. In
diese Richtung weisen auch Umfrage-Ergebnisse. „Circa 80 Prozent der
Deutschen stehen der Organspende positiv gegenüber, aber nur circa 20
Prozent haben dies auch in Form eines Organspendeausweises
unmissverständlich dokumentiert“, berichtet Anthuber, der als Direktor
der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am
Klinikum Augsburg tätig ist.
Als
weiteren Vorteil einer Gesetzesneuregelung führt der DGCH-Präsident den
Umstand an, dass mit einer Widerspruchslösung Druck von den Angehörigen
genommen wird. „Im Augenblick müssen Hinterbliebene in einer denkbar
schwierigen Situation den vermuteten Willen des Verstorbenen
hinsichtlich der Organspende zum Ausdruck bringen“, so Anthuber. „Das
kann als sehr belastend empfunden werden.“
Dass
die doppelte Widerspruchslösung einen Eingriff in die Freiheit des
Einzelnen darstellen würde, wie von Kritikern angeführt, kann der
Augsburger Chirurg nicht nachvollziehen. „Niemand wird zur Organspende
im Sinne einer Organabgabepflicht gezwungen“, betont Anthuber. „Die
Bürgerinnen und Bürger werden jedoch zur aktiven Entscheidung
aufgefordert. Damit bleibt die individuelle Freiheit, ob man nun
Organspender sein will oder nicht, vollumfänglich erhalten.“
Beispielgebend
für ein mögliches Vorgehen bei der Implementierung der
Widerspruchslösung in Deutschland könnte der Nachbarstaat Holland sein.
„Zuletzt haben die Niederlande eine Gesetzesinitiative auf den Weg
gebracht, die nach umfangreicher und stufenweiser Information der
Bevölkerung zum Ziel hat, ab 2020 die Widerspruchslösung einzuführen“,
berichtet Anthuber.
Eines
der zentralen Argumente für die doppelte Widerspruchslösung besteht für
den DGCH-Präsidenten in der Beseitigung eines innereuropäischen
Ungleichgewichts. „Wir müssen in Deutschland anerkennen, dass wir unter
den derzeit bestehenden gesetzlichen Regelungen bei uns und in unseren
Nachbarländern in unangemessener Form von den gesetzlichen Regelungen
der Organspende um uns herum profitieren“, sagt Anthuber. „Deutschland
importiert viel mehr Organe aus dem Ausland, als es in das solidarisch
getragene System von Eurotransplant einbringt, und verschlechtert somit
die Transplantationschancen von Patienten auf ausländischen
Wartelisten.“ Ein Organspender kann über seinen eigenen Tod hinaus bis
zu sieben Menschen helfen und damit insgesamt mehr als 60 neue
Lebensjahre schenken.
Darüber
hinaus sei es richtig, betont Anthuber abschließend, die Rolle der
Transplantationsbeauftragten in den Kliniken zu stärken, wie es
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn plant.
Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH)