VERGANGENHEIT OHNE BEWÄLTIGUNG: RUSSLAND UND DIE SOWJETZEITEN

Ich – Jean Pütz bin der Meinung, dass
das politische Projekt, welches in der Presseinformation (s.u.) beschrieben
wird, unbedingt unterstützt werden sollte. Ich denke, hier sind im Vorfeld
schon die Probleme beschrieben, die Russland in die heutige Misere getrieben
haben und in Zukunft verfolgen werden. Man kann dieses Riesenreich nicht
unbedingt in unserem demokratischen Sinne beurteilen.
Allerdings sollte man
die fehlende Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen unseren "Linken" einmal
bewusst machen und auch, dass der Kommunismus genauso faschistisch war wie das
Verbrecher-Regime von Hitler. Es scheint, dass in unserer angeblich aufgeklärten
Gesellschaft wohlfeile populistische Wahlgeschenke immer noch eine
wesentliche Rolle spielen, die nicht finanzierbar sind oder nur durch staatliche
Gewaltexzesse. Das gilt ganz besonders in Richtung Basisdemokratie, da
sollten wir sehr vorsichtig sein. Frau Wagenknecht würde bei uns bestimmt eine
Petition durchbekommen, die die Abschaffung der Schwerkraft (Gravitation)in
einem demokratischen Abstimmungsprozess beschließen würde. Ähnliche
Gesetzmäßigkeiten wie in der Naturwissenschaft existieren auch im soziologischen
und wirtschaftlichen Raum.
Um das herauszufinden habe ich parallel an der
Universität zu Köln ein achtjähriges Soziologie- und Volkswirtschafts-Studium
absolviert mit Schwerpunkt Empirik, vor allem um zu begreifen, weshalb ein
zivilisiertes Volk wie die Deutschen einem Verbrecher und Psychopaten wie Hitler
überhaupt eine Chance gegeben hat. Das Ergebnis: Ich bin überzeugt davon,
dass solche Prozesse sich in jeder Gesellschaft wiederholen können, u. a.
ist der Kommunismus an seiner wirtschaftlichen und sozialen Inkompetenz
gescheitert.   
Das war einer der Gründe, weshalb ich kürzlich
im Luxemburgischen Schengen – leider nur in Luxemburger Sprache – einen
vielbeachteten Vortrag über Demokratie und Wissenschaft gehalten habe. Er wurde
mittlerweile im Luxemburger Hörfunk-Sender 100,6 vier Mal
wiederholt. Tenor: Wenn Demokratie Probleme lösen soll, dann ist
auch ein Mindestmaß an Sachverstand der Bürger notwendig, was nicht
immer erwartet werden kann. Deswegen habe ich inständig für die repräsentative
Demokratie plädiert, denn ein Abgeordneter hat eigentlich die Pflicht, sich
intensiv mit dem Abstimmungsprozess im Einzelnen aber auch im Gesamtzusammenhang
zu befassen, im Interesse aller Bürger. Aber genau da liegt das Problem, wenn
von bestimmten Parteien Wolkenkuckucksheime als Ideologie verkauft werden. Daran
krankt im Moment Europa. Hoffentlich gewinnen die nicht die Oberhand, siehe
Griechenland.

Vielleicht sollte man noch daran erinnern,
dass die soziale und ökologische Marktwirtschaft eine Errungenschaft ist, die
nicht übertroffen werden kann.

Jean Pütz

VERGANGENHEIT OHNE BEWÄLTIGUNG: RUSSLAND UND DIE SOWJETZEITEN

Wie
erinnert sich die Bevölkerung Russlands an die Zeit der Sowjetunion �
und wie beeinflusst diese Erinnerung den dort laufenden sozialen Wandel?
Ein neues Projekt des Wissenschaftsfonds FWF widmet sich genau diesen
hochaktuellen Fragen. Konkret werden gesellschaftliche Deutungsmuster
identifiziert, die bezüglich der Sowjetzeiten in der russischen
Bevölkerung existieren. Weiters wird der Einfluss dieser Muster auf den
sozialen Wandel analysiert, der sich nach dem Zerfall der Sowjetunion
einstellte.

Vergangenheit ist Zukunft � zumindest wenn es um
die politische Kultur einer Gesellschaft geht. Wie eine solche Zukunft
aussieht, hängt dabei maßgeblich von der Auseinandersetzung mit der
eigenen Vergangenheit ab. Inwieweit eine solche Reflexion bei der
russischen Bevölkerung bezüglich der Sowjetzeiten stattfindet,
untersucht nun Dr. Anna Schor-Tschudnowskaja in einem vom
Wissenschaftsfonds FWF unterstützten Projekt.

DEUTUNG MIT MUSTER

Das
Ziel des Projekts ist es, kollektive Deutungsmuster in der russischen
Bevölkerung zu identifizieren, die dem Umgang mit der sowjetischen
Erfahrung zugrunde liegen. Zu der Bedeutung des Projekts meint die
Mitarbeiterin der Sigmund Freud Privatuniversität: "Auch fast 25 Jahre
nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Dynamik des sozialen Wandels in
Russland noch immer enorm. Tatsächlich erfolgte nie eine klare
Abgrenzung zur politischen Kultur der Sowjetzeit, und die
gesellschaftliche Einstellung dazu ist widersprüchlich und
spannungsgeladen � und wenig analysiert."

So scheint das
kollektive Gedächtnis der russischen Bevölkerung noch immer von wenigen
heroischen Errungenschaften der Sowjetzeit dominiert zu werden: die
Industrialisierung in den 1930er Jahren, der Sieg im 2. Weltkrieg und
die lange Führungsrolle im Rennen um die Eroberung des Weltalls. Andere
Aspekte, wie Staatsverbrechen und autoritäre Machtausübungen, werden
hingegen ignoriert oder verharmlost. Für Dr. Schor-Tschudnowskaja ist
diese selektive Wahrnehmung ein wesentlicher Bestandteil der
gegenwärtigen politischen Kultur in Russland � und ein signifikanter
Beeinflussungsfaktor für die zukünftige Entwicklung. In dem dreijährigen
Projekt wird sich die erfahrene Russland-Expertin nun mit der
systematischen Analyse dieser Vergangenheitsbewältigung beschäftigen.

GESPRÄCHSBASIS

Als
Grundlage ihrer Analyse werden 30 bis 40 biografische Interviews
dienen. Um die Aussagekraft der Ergebnisse zu erhöhen, werden diese in
zwei verschiedenen Altersgruppen und Städten durchgeführt. Junge
Menschen zwischen 20 und 25 Jahren werden daher genauso wie auch ältere
Personen ab 60 Jahren in Moskau und St. Petersburg interviewt.
Durchgeführt werden die Interviews teilweise strukturiert und teilweise
offen. Dazu Dr. Schor-Tschudnowskaja: "Die Strukturierung ist für eine
sinnvolle Auswertung wichtig. Der offene Charakter wiederum erlaubt es,
auf individuelle Aspekte einzugehen � und so eine echte
Alltagsperspektive zu erhalten." Gerade Letzteres ist wichtig, denn es
gilt als wissenschaftlich akzeptiert, dass die individuelle
Lebenserfahrung und deren Interpretation die ersten Schritte zur
inhaltlichen Befüllung einer politischen Kultur sind. Während der
folgenden Auswertung wird der Fokus darauf liegen, ob und wie die
Personen sinnhaft Bezug auf die Erfahrungen mit der Sowjetunion nahmen
und nehmen. Weiters wird nach Mustern in der Wahrnehmung und
Interpretation der damaligen Geschehen � und deren inhaltlichem Kontext �
gesucht werden.

In einem anderen Teil des FWF-Projekts wird Dr.
Schor-Tschudnowskaja die wissenschaftliche Literatur sichten, um auch
hier Hinweise auf spezielle Deutungsmuster zu erhalten. Gemeinsam mit
den empirischen Ergebnissen der Interviews wird sie so Muster
identifizieren und deren Bedeutung für eine zukünftige gesellschaftliche
Entwicklung einschätzen können.

Die Ergebnisse des Projekts sind
dabei von mehr als rein wissenschaftlichem Interesse. VertreterInnen
aus Politik und Wirtschaft werden sie eine neue und differenziertere
Sicht auf die postsowjetische Gesellschaft im heutigen Russland
ermöglichen � eine Perspektive, die gerade in Zeiten erhöhter
wirtschaftspolitischer Spannung von großer Bedeutung sein kann.

Wissenschaftlicher Kontakt:
Dr. Anna Schor-Tschudnowskaja