Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)
Hochnormale Schilddrüsenhormon-Konzentrationen steigern das Risiko für Vorhofflimmern
Bochum, 20. November 2018:
Nicht nur erhöhte Konzentrationen von freiem Thyroxin (FT4) im
Rahmen einer manifesten Schilddrüsenüberfunktion, auch bereits relativ
hohe FT4-Spiegel im Referenzbereich steigern das Risiko für
Vorhofflimmern. Dies hat eine Studie der Gruppe um Jeffrey L. Anderson
vom Intermountain Medical Center Heart Institute in Salt Lake City
erbracht, die vor wenigen Tagen auf der Scientific Session Conference
der American Heart Association in Chicago präsentiert wurde [1].
Untersucht wurden Datensätze aus der Datenbank von Intermountain
Healthcare, einem integrierten Gesundheitsdienstleister in Utah und
Idaho. Einschlusskriterien waren, dass die FT4-Konzentration gemessen
worden war und die Patienten keine Substitution mit Schilddrüsenhormonen
erhielten. 174.914 Akten wurden aufgrund dieser Kriterien
eingeschlossen und die Fälle über 6,3 ± 4,4 Jahre nachverfolgt. Der
Referenzbereich für die FT4-Konzentration (0,75 bis 1,5 ng/dl in diesem
Labor) war zuvor aufgrund der geordneten anfänglichen Messwerte in vier
Bereiche (Quartile) eingeteilt worden.
Es fand sich, dass die 4,2% der Personen, die eine FT4-Konzentration
über der Obergrenze des Referenzbereiches aufwiesen (also an einer
manifesten primären oder sekundären Hyperthyreose litten), während der
Nachbeobachtung einem doppelt so hohen adjustieren Risiko für
Vorhofflimmern wie die Personen im untersten Quantil des
Referenzbereichs ausgesetzt waren. Allerdings konnte ein zunehmendes
Risiko auch mit steigendem FT4-Quartil innerhalb des Referenzbereichs
beobachtet werden: Im obersten Quartil lag die Prävalenz des
Vorhofflimmerns beim 1,4-fachen des untersten Quartils und die
3-Jahres-Inzidenz beim 1,3-fachen. Interessanterweise gab es einen
U-förmigen Zusammenhang zwischen dem TSH-Spiegel und der Inzidenz von
Vorhofflimmern: Hier war das Risiko am geringsten im zweiten Quartil und
sowohl in den ersten und vierten Quartilen als auch außerhalb des
Referenzintervalls deutlich erhöht. Ähnlich, aber schwächer ausgeprägt,
fand sich auch ein U-förmiger Zusammenhang zur FT3-Konzentration.
Kommentar
Die Studie bestätigt – mit einer wesentlich größeren Fallzahl –
Beobachtungen der Rotterdam Study, die an 9.166 Personen ebenfalls ein
erhöhtes Risiko für Vorhofflimmern bei hochnormalen FT4-Konzentrationen
festgestellt hatte [2]. Ein möglicher Bias der aktuellen Studie (die
Messung der FT4-Konzentration bei den Patienten wird möglicherweise
einen klinischen Grund gehabt haben) bestand bei der
bevölkerungsbasierten Rotterdam Study nicht.
Die Ursache für diesen frappierenden Zusammenhang, der in ganz
ähnlicher Weise auch bereits für das Risiko eines plötzlichen Herztods
gefunden wurde (s. DGE-Blogbeitrag vom 19. September 2016,
), liegt möglicherweise in der Tatsache, dass bei steigender
FT4-Konzentration durch minimale Veränderungen der Schilddrüsenfunktion
bei immer mehr Personen der persönliche Set-Point („Sollwert“) der
Schilddrüsenhomöostase überschritten wird.
Die U-förmigen Zusammenhänge zu den TSH- und FT3-Konzentrationen sind
schwieriger zu interpretieren. Offensichtlich geht auch eine beginnende
Hypothyreose mit einem erhöhten Risiko für Vorhofflimmern einher, wie
auch kürzlich in einer Meta-Analyse bestätigt [3]. Ob dies an der
Hypothyreose selbst liegt oder an erhöhten Konzentrationen
nicht-klassischer Schilddrüsenhormone wie 3,5-T2, dessen Spiegel invers
zur FT3-Konzentration korreliert [4], ist derzeit noch ungeklärt.
Vorhofflimmern ist bekanntlich ein starker Risikofaktor für
Schlaganfälle und sogar klinisch inapparente Hirnläsionen in
bildgebenden Untersuchungen [5]. Auch eine Hyperthyreose ohne
Vorhofflimmern ist mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko verbunden, aber
am höchsten ist das Risiko bei hyperthyreotem Vorhofflimmern [6; 7].
Diese Studien haben eine große Bedeutung insbesondere für die
Substitutionstherapie mit L-Thyroxin: Bei einer latenten Hypothyreose
mag es vorteilhaft sein, auf eine Therapie zu verzichten, jedenfalls so
lange die FT4-Konzentration in der Mitte des Referenzintervalls liegt
(s. DGE-Blogbeitrag vom 4. Oktober 2018,
). Wenn substituiert wird, dann wäre wohl für die meisten Patienten
ebenfalls eine mittige FT4-Konzentration ein sinnhaftes Therapieziel,
zumindest wenn keine eindeutigen Gründe für ein anderes Therapieregime
vorliegen.
PD Dr. med. Johannes W. Dietrich
Medizinische Klinik I
BG Universitätsklinikum Bergmannsheil GmbH