Perfekte Ordnung am absoluten Nullpunkt
Forscherteam beobachtet erstmals Anzeichen von Ferroelektrizität in Eis
Einem Wissenschaftsteam der Universität Stuttgart
sowie aus Russland und Tschechien ist es gelungen, Wassermoleküle so in
einen Edelstein zu packen, dass erstmals Anzeichen von ferroelektrischer
Ordnung beobachtet werden konnte. Dies liefert einen wichtigen Beitrag
zum Verständnis der Physik des Wassers und eröffnet die Perspektive,
auch das Funktionieren von Proteinen und Zellen besser zu verstehen. Das
Fachmagazin Nature Communications berichtete darüber in seiner jüngsten
Ausgabe.
Wasser ist bei weitem nicht so klar, wie es
erscheint. Obwohl Wasser im täglichen Leben als Eis, Flüssigkeit und
Dampf allgegenwärtig ist, obwohl es wissenschaftlich in jedem Detail so
intensiv untersucht wird wie kein anderer Stoff auf der Erde, ist seine
Physik bisher keineswegs verstanden. Warum Wasser zum Beispiel erst bei
100 Grad Celsius kocht, kann man nur mit Hilfe der Quantenmechanik
erklären: Der Grund dafür sind die starken elektrischen Felder durch die
beiden Wasserstoffatome am Sauerstoff in H2O.
Selbst im kristallinen Eis bilden die elektrischen
Dipole keine Ordnung. Das bedeutet, dass Eis entgegen aller einfachen
Modelle nicht ferroelektrisch ist. Und dies gilt nicht nur für normales
Eis, welches als hexagonales Eis Ih bezeichnet wird, sondern
auch für 15 weitere Formen, die meist nur unter extremen Bedingungen im
Labor oder auf den Planeten und Monden unseres Sonnensystems beobachtet
werden. Brücken, die durch Wasserstoffbindungen zwischen benachbarten
Wassermolekülen gebildet werden, verhindern dies.
Dem Team aus Russland, Tschechien und Deutschland
gelang es nun, Wassermoleküle so in einen Edelstein zu packen, dass
erstmals Anzeichen von ferroelektrischer Ordnung beobachtet wurde.
Hierzu verwenden sie Beryll-Kristalle: eine Familie von natürlich
vorkommenden Mineralen, von denen der Smaragd mit seiner faszinierenden
grünen Farbe der bekannteste ist.
Isoliert, aber zu spüren
In den Nanoröhren der Kristalle sind einzelne
Wassermoleküle eingelagert, die so weit voneinander isoliert sind, dass
sie keine Wasserstoffbrücken mehr bilden können, aber doch nah genug, um
sich elektrisch zu spüren. Mittels optischer Untersuchungen in einem
weiten Spektralbereich vom infraroten, über THz-Frequenzen bis hin zu
Radiowellen, konnten die H2O-Moleküle direkt beobachtet
werden. Man erkannte, dass die elektrischen Dipole sich alle ausrichten,
wenn die Temperatur bis nahe dem absoluten Nullpunkt von -273 Grad
Celsius abgesenkt wird. Lediglich Quantenfluktuationen verhindern die
perfekte ferroelektrische Ordnung der Wassermoleküle.
Von Biologie bis Speichermedien
Die Physiker vermuten, dass die Ferroelektrizität
dieser isolierten Wassermoleküle auch in biologischen Systemen eine
wichtige Rolle spielt. „Vielleicht gelingt es uns jetzt besser, das
Funktionieren von Proteinen und Zellen zu verstehen, die elektrische
Impulsübertragung mittels der Protonen in Nerven“, hofft Prof. Martin
Dressel vom 1. Physikalischen Institut der Universität Stuttgart.
Möglicherweise könne man diese Prinzipien nun in Brennstoffzellen und
Datenspeichern anwenden, in Lichtquellen und anderen elektronischen
Bauteiler auf der Nanometer-Skala.
*Originalpublikation:
Boris Gorshunov et al., Martin Dressel: Incipient ferroelectricity of
water molecules confined to nano-channels of beryl, Nature
Communications 7, 12842 (2016)