Objektive Information zum Thema Cannabis

pts20190131012 Medizin/Wellness, Forschung/Technologie

Mit Cannabinoiden gegen chronische Schmerzen: Jüngste Empfehlungen der Europäischen Schmerzgesellschaft EFIC

Pressemitteilung zu den 18. Österreichischen Schmerzwochen der Österreichischen Schmerzgesellschaft

Wien (pts012/31.01.2019/09:00) – Sind Cannabinoid-Medikamente
für die Schmerztherapie zweckmäßig? Könnte der medizinische Einsatz von
Cannabisblüten oder Marihuana Vorteile gegenüber den verfügbaren
Medikamenten bringen? Mit diesen aktuell viel diskutierten Fragen
beschäftigte sich zuletzt nicht nur ein auf Ersuchen des Nationalrats
vom Sozialministerium erstellter Bericht, sondern auch ein
internationales Positionspapier der Europäischen Schmerzföderation EFIC.
ÖSG-Vorstandsmitglied Univ.-Prof. DDr. Hans Georg Kress, Vorstand der
Abteilung für Spezielle Anästhesie und Schmerzmedizin, Medizinische
Universität/AKH Wien, der an beiden Expertisen maßgeblich beteiligt war,
erläutert anlässlich der 18. Schmerzwochen der Österreichischen
Schmerzgesellschaft (ÖSG) einige wichtige Aspekte.

"Insgesamt zeigt sich, dass die wissenschaftliche Evidenz für den
medizinischen Einsatz von Cannabinoiden noch lückenhaft ist und die
Anwendung daher in vielen Bereichen mehr auf klinischer Erfahrung und
weniger auf harten Studien-Daten beruht", so Prof. Kress. Am besten sind
die Cannabinoide Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC, internationaler
Freiname: Dronabinol) und Cannabidiol (CBD) untersucht. THC ist
halluzinogen, CBD nicht und daher auch kein Suchtmittel. Die möglichen
medizinischen Einsatzgebiete dieser beiden Cannabinoide unterscheiden
sich außerdem maßgeblich.

Eine der Empfehlungen des neuen EFIC-Positionspapiers zielt auf die
Kenntnisse der Behandler ab: "Eine Therapie mit Cannabinoiden sollte von
Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden, die über ausreichende
therapeutische Erfahrung mit diesen Substanzen verfügen", fasst Prof.
Kress die europäische Expertenempfehlung in dieser Frage zusammen.

Mit Cannabinoiden gegen chronische Nervenschmerzen

Was den Einsatz von Cannabinoiden bei chronischen Schmerzen betrifft, so
ist die Wirkung bei chronischem neuropathischem Schmerz
wissenschaftlich gut belegt. Im Rahmen einer medikamentösen Behandlung
kann Dronabinol hier als Ergänzung (Add-on-Therapie) eine nützliche
Option darstellen. Dafür sprechen Quantität und Qualität der Evidenz,
wie das aktuelle EFIC-Positionspapier festhält.

Für die Behandlung aller anderen chronischen Schmerzzustände sind die
Experten-Empfehlungen aufgrund der Datenlage zurückhaltender. Nach
Ausschöpfung und Versagen herkömmlicher Therapien kann Dronabinol auch
bei anderen chronischen Schmerzen im Sinn eines individuellen
Therapieversuchs zusätzlich zum Einsatz kommen, so Prof. Kress: "Die
deutsche CAPRIS-Studie beschreibt sekundäre Wirksamkeitsbelege zugunsten
von Cannabinoid-Arzneimitteln in der Schmerztherapie, zum Beispiel eine
Reduktion der durchschnittlichen Schmerzintensität."

Auch bei Tumorschmerzen könne ein Therapieversuch als Zusatzmedikation
sinnvoll sein. Neben der Reduktion des Opioidverbrauchs können auch
Symptome wie Schlafstörungen, Erschöpfung, Übelkeit, Erbrechen und
Appetitlosigkeit positiv beeinflusst werden, wie zuletzt eine
Praxisempfehlung einer österreichischen Expertengruppe festhielt.
Weitere anerkannte mögliche Einsatzgebiete für THC sind spastische
Schmerzzustände, zum Beispiel bei Multipler Sklerose oder dem
Querschnittssyndrom.

Beim Einsatz von Cannabinoiden seien jedenfalls einige Rahmenbedingungen
zu beachten: Zu empfehlen ist bei entsprechenden Hinweisen vor
Therapiebeginn ein Screening auf Depression und Angststörung oder auf
Substanz-Abhängigkeit. Patienten mit einem hohen Abhängigkeitsrisiko
sollte Dronabinol nur mit engmaschiger Kontrolle verschrieben werden.
"Wichtig ist auch, vor dem Beginn der Cannabinoid-Behandlung
realistische Therapieziele zu definieren. Werden diese nicht erreicht
oder belasten Nebenwirkungen die Patienten zusätzlich, muss die
Behandlung beendet werden", so Prof. Kress.

Kein grünes Licht für Cannabisblüten- und Marihuana-Konsum für medizinische Zwecke

Auch die immer wieder diskutierte Frage, ob Cannabisblüten oder
Marihuana für medizinische Zwecke auf Rezept erhältlich sein sollen,
vaporisiert oder geraucht, diskutiert die neue europäische Empfehlung.
"Unser EFIC-Positionspapier betont, dass der Einsatz von Reinsubstanzen
und arzneimittelbehördlich zugelassenen Cannabis-basierten
standardisierten Extrakten für medizinische Zwecke schon wegen der
Dosis- und Anwendungssicherheit, wenn immer möglich, dem Konsum von
Pflanzenteilen vorzuziehen ist", so Prof. Kress. "Hier ist angesichts
der oft emotional und ideologisch geführten Debatte wohl eine wichtige
Klarstellung angebracht. Die generelle Legalisierung von Cannabis ist
eine rein gesellschaftspolitische Entscheidung, nur zwei Länder weltweit
und einige US-Bundesstaaten haben sich bisher dafür entschieden. Wer
eine solche generelle Legalisierung wünscht, soll das auch klar sagen,
und sich nicht hinter einer Diskussion des medizinischen Nutzens von
Cannabis und seiner ‚Medikalisierung‘ verstecken. Schon heute können in
Österreich und anderen Ländern Patienten von wirksamen und sicheren
Cannabinoid-Medikamenten profitieren – dafür braucht es keine
medizinische Cannabis-Legalisierung."

Nach gegenwärtigem Wissensstand gibt es keine Beweise, dass
Cannabisblüten oder Marihuana für medizinische Zwecke wirksamer und
sicherer wären als die verfügbaren Cannabinoid-Medikamente, die ihre
Wirksamkeit und arzneimitteltechnische Sicherheit in kontrollierten
Studien bewiesen haben, so der Experte. Vor diesem Hintergrund sieht
auch das österreichische Sozialministerium in seinem aktuellen Bericht
keinen gesetzlichen Änderungsbedarf.

Von manchen Seiten wird polemisiert, mächtige "Pharmalobbies" würden
versuchen, eine Liberalisierung oder Legalisierung des medizinischen
Cannabisgebrauchs zu verhindern. Hier werde bewusst ein völlig falsches
Bild gezeichnet, so der Experte. "In Wirklichkeit geht es bei der
Forderung nach medizinischer Cannabis-Freigabe um einen Milliardenmarkt
mit entsprechenden großen börsenotierten Cannabisproduzenten und deren
massivem Lobbying."

Erst kürzlich kaufte der kanadische Cannabis-Anbauer Aurora Cannabis den
Rivalen MedReleaf für umgerechnet 2,1 Milliarden Euro. Die Aktien
einschlägiger Anbau-Firmen schießen in die Höhe. Das Fachmagazin
"Marijuana Business Daily" (sic!) schätzt, dass sich das Marktvolumen
bis zum Jahr 2021 auf 23 Milliarden Dollar mehr als verdreifacht. Manche
Analysten schätzen das künftige weltweite Marktpotenzial für legales
Cannabis auf mehr als 150 Milliarden Euro, und längst haben sich auch
globale Tabak- und Getränkekonzerne an großen Cannabis-Unternehmen
beteiligt. Prof. Kress: "Hier geht es also um ein richtig großes
Geschäft, für dessen Durchsetzung offenbar Schmerzpatienten
instrumentalisiert werden sollen."

Zugang zu den bereits verfügbaren Arzneien erleichtern

Verfügbar ist in Österreich Dronabinol (THC) als Reinsubstanz für
magistrale Zubereitungen; es besteht Rezeptpflicht (Suchtmittelrezept)
und für die Kassenerstattung ist eine chefärztliche Bewilligung
erforderlich. Die Zubereitung erfolgt als ölige Lösung oder Kapseln.
Darüber hinaus sind zwei chefarztpflichtige Fertigarzneispezialitäten
zugelassen, ein Spray mit THC und CBD (Nabiximols) und das synthetische,
THC-ähnliche Nabilon. "Statt mit einer Legalisierungsdebatte wäre
betroffenen Patienten mehr geholfen, wenn in Österreich
Cannabinoid-Medikamente ohne die momentanen Erstattungs-Hürden der
Krankenkassen besser zugänglich wären", so Prof. Kress. "Wünschenswert
wäre eine deutlich vereinfachte Kostenübernahme durch die Krankenkassen
bis hin zur Aufnahme in den grünen Bereich des Erstattungs-Kodex."

Quellen: Häuser W, Kress HG et al: European Pain
Federation (EFIC) position paper on appropriate use of cannabis-based
medicines and medical cannabis for chronic pain management. European
Journal of Pain DOI:10.1002/ejp1297.2018; Zusammenfassender Bericht der
eingeholten Stellungnahmen aufgrund der Entschließung des Nationalrats
Nr. 27/E XXVI.GP betreffend Liberalisierung von Cannabis zu
medizinischen Zwecken; Deutsches Bundesministerium für Gesundheit:
Cannabis: Potential und Risiken. Eine wissenschaftliche Analyse
(CaPRis). 2017; Interdisziplinäres Meeting – "Austrian Cannabinoid
Experts", Dronabinol im Fokus: Erfahrung und Evidenz: Schmerznachrichten
1a/2019