(FAZ) – Angeklagte wähnen sich häufig in einer anderen Realität. Der Strafprozess holt sie dann wieder auf den Boden zurück. Dem Kronzeugen im ersten Cum-Ex-Prozess geht es ähnlich, wenn er über die Hochzeiten der umstrittenen Aktiengeschäfte vor mehr als einem Jahrzehnt zurückdenkt. Im 32. Stockwerk eines Hochhauses in der Bankenmetropole Frankfurt habe er damals gestanden und auf die Menschen weit unter ihm geschaut. „Die da unten“ – ein Gefühl von geistiger Überlegenheit habe ihn erfasst, berichtet der Wirtschaftsanwalt am Dienstagmorgen im Sitzungssaal des Landgerichts Bonn.
Und wenn die Scheinwelt dann doch mal gestört wurde? Etwa durch die Änderungen im Jahressteuergesetz von 2007, durch die der Abzug der Kapitalertragssteuer auf Kompensationszahlungen Pflicht wurde? Oder die mahnenden Schreiben aus dem Bundesfinanzministerium? Kronzeuge S., dem TV-Journalisten einst den Namen „Benjamin Frey“ gaben, zitiert vor Gericht aus Pippi Langstrumpf „Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt.“
Nur unter falscher Identität, mit verfremdeter Stimme, Maske und Perücke war er im Jahr 2018 bereit, mit Journalisten der ARD und von „Correctiv“ über seine tiefe Verstrickung in den Cum-Ex-Sumpf zu sprechen. Eine Vorsichtsmaßnahme für seine Familie und für ihn: Als Kronzeuge S. seine Geschäftspartner – gegen die mittlerweile Staatsanwälte und Steuerfahnder wegen schwerer Steuerhinterziehung und Beihilfe ermitteln – im Jahr 2015 mit seinem Ausstieg konfrontierte, wurde er bedroht.
Er hätte auch schweigen können
Im Blitzlichtgewitter und vor laufenden Fernsehkameras, flankiert von seinen Anwälten, rauschte der Kronzeuge am Dienstagmorgen in den Gerichtssaal. Ohne Maske, aber mit zwei hochangesehenen Strafverteidigern. Von 2016 an hatte S. in mehr als 20 Vernehmungen der Behörden in Köln, Düsseldorf und München ausgesagt; Das sicherte dem 48 Jahre alten Mann zumindest den Status als Kronzeuge der Anklage
Am Anfang habe er „die Hose nur bis zu den Knien runtergelassen“, sagt S. am Dienstag im Zeugenstand. „Das hat nicht gereicht, aber die Staatsanwaltschaft hatte Geduld mit mir.“ Er hätte auch schweigen können, entschied sich aber für den unangenehmen Weg der Wahrheit. Denn als anderweitig Beschuldigter wird ihm möglicherweise auch der Prozess gemacht. Dann müsste ein Gericht seine Unterstützung in der Aufklärung der Straftaten aber zwingend mildernd berücksichtigen. Den von ihm mit verursachten Steuerschaden will der geläuterte Jurist an den Fiskus zurückgezahlt haben.
Geld habe für ihn, der aus einfachen Verhältnissen stammte, schon immer eine wichtige Rolle eingenommen, sagt S. Dank seines gutes Jura-Abschlusses hatte sich ihm die Tür zur Welt der Großkanzleien geöffnet. Wie in einem Raumschiff sei er gezogen worden, erinnert sich der Jurist sich an seine Anfangsjahre in der amerikanischen Top-Kanzlei Shearman & Sterling. Dort traf er auf den Mann, der sein Leben entscheidend verändert sollte: Hanno Berger, den damals gefragtesten Steueranwalt in Deutschland. „Die Unternehmen standen bei Berger Schlange, um sich von ihm beraten zu lassen.“
Dem Staat einen Schritt voraus
Seiner Erinnerung nach habe er im Jahr 2005 das erste Mal Kontakt mit „Cum-Ex“ gehabt. Berger und weitere Anwälte der Kanzlei sollten für die australische Macquarie-Bank ein Zweitgutachten über die Transaktionen erstellen: Das erste Gutachten wiederum sei von der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer gekommen. Man habe die Idee aufgegriffen und eigene Geschäftsmodelle entwickelt.
Als nicht unüblich bezeichnete S. diesen Vorgang und widersprach vehement der Aussage, wonach Berger in Deutschland der „Erfinder“ von Cum-Ex sei. „Cum-Ex war ein industrielles, etabliertes Phänomen.“ Anfangs habe der Handel vor allem zwischen Banken stattgefunden. Berger sei es gelungen, diese Strukturen für private Investoren wie den Berliner Unternehmer Rafael Roth zu öffnen.
Mit dem Erfolg und der Zunahme der Transaktionen verschlossen die Cum-Ex-Akteure bei kritischen Nachfragen zunehmend die Augen. Das betraf nicht nur das Arbeitsumfeld von S., der mit Berger zur amerikanischen Großkanzlei Dewey Ballantine (später Dewey & LeBoeuf) gewechselt war. Auch Börsenhändler, Broker und Banken hätten die Geschäfte mit neuen Anpassungen weiter betrieben. Man sei dem Staat und der Bankenaufsicht immer einen Schritt voraus gewesen. „Gab es neue Vorgaben, war erstmal drei Tage Sand im Getriebe, aber dann lief die Maschine wieder“, sagt S. auf Nachfrage des Vorsitzenden Roland Zickler.
Die Maschine, von der der Kronzeuge spricht, war ein Geflecht aus Fondsgesellschaften, reichen Investoren und Beratern – darunter Berger und sein aufstrebender Junior-Partner, mit dem er später eine eigene Kanzlei gründete. Dank des Systems, für das in Bonn stellvertretend zwei angeklagte Börsenhändler und fünf am Prozess beteiligte Finanzinstitute stehen, hat S. fürstlich verdient: Er habe allein „50 Millionen Euro erbeutet“, sagte der Wirtschaftsanwalt im vergangenen Jahr in einer „Cum-Ex“-Dokumentation der ARD.
Nach mehreren Stunden Vernehmung will Richter Zickler Klarheit haben. Ob denn in den Banken niemand die Augenbrauen hochgezogen habe, als man den systematischen Griff in die Staatskasse verkaufte, will er von S. wissen. „Alle haben ein Ziel gehabt – Profitmaximierung“, antwortet der Kronzeuge. Moralische Bedenken habe keiner gehabt. Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt.
Marcus Jung