Kinderchirurgen raten zu begründeten Operationen

Negativ-Berichte über
Anästhesien bei Säuglingen und Kleinkindern verunsichern
Eltern

Kinderchirurgen
raten zu begründeten
Operationen

Berlin, – Operationen unter Vollnarkose sind
bei
Säuglingen und Kleinkindern mitunter unvermeidlich. Das umfasst
einerseits Notfälle wie eine Blinddarm-OP. Aber auch bei
Fehlentwicklungen wie etwa angeborenen Doppelnieren erspart eine
Operation dem Kind weitere Beschwerden, beispielsweise durch
wiederholte
Entzündungen. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH)
bedauert deshalb Medienberichte, wonach eine Allgemeinanästhesie bei
Säuglingen und Kleinkindern zu einer lebenslangen Beeinträchtigung des
Gedächtnisses führen könne. Solche wissenschaftlich derzeit nicht
haltbaren Aussagen verunsicherten Eltern betroffener Kinder und
schadeten den kleinen Patienten, kritisiert die DGKCH. Stattdessen
sollten Ärzte Eltern beraten und vermitteln, dass notwendige
Operationen
rechtzeitig stattfinden.

Die
Berichte beruhen auf einer kürzlich im Fachblatt
„Neuropsychopharmacology“ veröffentlichten Studie von US-Forschern um
Greg Stratmann. Sie verglichen die Gedächtnisleistung von 28 Kindern im
Alter zwischen sechs und elf Jahren, die sich aufgrund einer Operation
im ersten Lebensjahr einer Allgemeinanästhesie – umgangssprachlich
Vollnarkose genannt – unterzogen hatten. Ihre Gedächtnisleistung war um
etwa 25 Prozent verringert gegenüber Gleichaltrigen ohne
Anästhesieerfahrung. Die Untersuchung schließt an frühere
experimentelle
Studien mit Tieren an. Danach können Anästhetika und Sedativa die
Entwicklung des noch unreifen Gehirns negativ beeinflussen. Inwieweit
sich dies auf Menschen übertragen lässt, ist umstritten.
Gegenwärtig vorliegende wissenschaftliche
Erkenntnisse als Argument gegen eine begründete Operation, etwa in den
ersten beiden Lebensjahren, zu verwenden, sei verantwortungslos, meint
Dr. med. Tobias Schuster, Sprecher DGKCH. „Es besteht Konsens, dass wir
Kinder nur operieren, wenn es medizinisch geboten ist“, so der der
Chefarzt der Kinderchirurgie am Klinikum Augsburg. Das bevorzugte
OP-Alter richte sich nach dem Krankheitsbild, wichtige Erkenntnisse,
etwa über den OP-Zeitpunkt bei Harnröhrenverkürzung, dürften jetzt
nicht
einfach über Bord geschmissen werden, so
Schuster.

Eine noch unveröffentlichte prospektive Studie
von Medizinern um Antje Allendorf, Oberärztin für Kinder- und
Jugendmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt/Main stützt diese
Einschätzung: Sie untersuchten in Kooperation mit der Kinderchirurgie
unter Leitung von Professor Udo Rolle 40 Patienten mit angeborenen
Fehlbildungen im Magen-Darm-Bereich, die als Neugeborene operiert und
anästhesiert worden waren und 40 Kinder einer Kontrollgruppe, die nicht
operiert wurden. Im Alter von zwei Jahren wiesen die kleinen Patienten
keinen allgemeinen Rückstand in der motorischen und kognitiven
Entwicklung auf.

Schuster
rät Eltern davon ab, aus Bedenken oder Angst vor möglichen Folgen der
Anästhesie medizinisch notwendige Operationen bei ihren Kindern zu
verschieben. Denn Eingriffe unter Vollnarkose werden auch bei kleinen
Kindern keineswegs nur in Notfällen durchgeführt. Auch um
Entwicklungsstörungen eines Organs, einer Organfunktion oder etwa
drohende Infektionen zu verhindern, ist eine rechtzeitige Operation
entscheidend. Als Beispiel nennt der Facharzt eine OP bei
Harnleiterabgangsenge zur Rettung der Nieren oder bei Hodenhochstand
zur
Erhaltung der Fruchtbarkeit. „Eine solche Operation hinauszuzögern ist
nicht gerechtfertigt.“

Mehrere
Forschergruppen widmen sicher derzeit dem Thema, insbesondere in den
USA. Hier flossen im Jahr 2012 bereits 24 Millionen Dollar in
entsprechende Studien. Als begrenzt bewertet die Aussagekraft der
Rückschau von Stratmann und Co. jedoch auch Dr. med. Karin Becke,
Chefärztin der Abteilung für Anästhesie an der Cnopf´schen Kinderklinik
in Nürnberg. Die Sprecherin des Wissenschaftlichen Arbeitskreises
Kinderanästhesie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und
Intensivmedizin (DGAI) verweist unter anderem auf die geringe Zahl der
Probanden, wechselnde Anästhesieverfahren sowie Grunderkrankungen, die
bereits mit kognitiven Funktionseinschränkungen einhergehen
können.

Erfahrene Kinderanästhesisten und der Einsatz
von Anästhesietechniken, bei denen Regional- und Lokalverfahren sowie
Analgetika und Anästhetika kombiniert werden, verringern ein
potentielles Risiko, wie Schuster und Becke betonen: „Es gibt bislang
keine Evidenz, dass die Medikamente per se für Neugeborene, Säuglinge
oder Kleinkinder mit einem erhöhten Risiko späterer neurokognitiver
Defizite einhergehen“, betont Schuster.