Kälte als Auslöser oder Hemmer von Schmerzen

Paradoxe Effekte: Kälte als Auslöser oder Hemmer von Schmerzen

Experten diskutieren Schmerzmechanismen auf dem Deutschen Schmerzkongress 2017

Mannheim – Während
Kälte bei gesunden Menschen mit akutem Schmerz schmerzhemmend sein
kann, existiert bei Patienten mit Nervenschmerzen ein gegenteiliger
Effekt: Sie reagieren häufig überempfindlich auf Kälte und empfinden
manchmal schon bei einem leichten Luftzug starke Schmerzen.
Verantwortlich dafür sind Eiweiße der Zelloberfläche der Nerven, die die
Nervensignale um ein Vielfaches steigern und zu der unangenehmen
Wahrnehmung führen. Wie lokale Kälte Schmerz auslösen, aber auch
reduzieren kann, diskutieren Schmerzforscher auf dem Deutschen
Schmerzkongress 2017 in Mannheim (11. bis 14. Oktober) und stellen erste
Erkenntnisse auf der Pressekonferenz am 12. Oktober 2017 vor.

Dass
Temperatur auf Schmerzen unterschiedlich wirkt, ist ein bekanntes
Phänomen. „Bei einem akuten entzündlichen Schmerz kann es
schmerzlindernd sein, wenn man die entsprechende Stelle kühlt, während
bei chronisch entzündlichen Schmerzen auch eine lokale Wärmebehandlung
helfen kann“, sagt Professor Dr. med. Martin Schmelz, Präsident der
Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. Kleine Temperaturänderungen der Haut
nehmen Menschen mit besonderen Sensoren wahr. Diese sitzen auf
Nervenzellen, die für das Kalt- und Warmempfinden verantwortlich sind:
Abkühlen schaltet die Kaltsensoren ein und die Warmsensoren ab. „Durch
vermehrte Nervensignale von Kaltsensoren und verminderte Signale von
Warmsensoren fühlen wir also eine Abkühlung“, erklärt Schmelz.

Patienten,
die wegen eines Krebsleidens mit Platinsalz (Oxaliplatin) behandelt
werden, empfinden die Abkühlung oft als viel stärker. Solange das
Platinsalz im Körper wirkt, sind die Patienten ausgesprochen
kälteüberempfindlich, und selbst kurze Kaltreize lösen ein lang
andauerndes übersteigertes Kältegefühl aus. Die Ursache dafür liegt
jedoch nicht in den „Fühlern“ für Kälte, sondern in den Eiweißen der
Zelloberfläche („Natriumkanäle“), die für die Weiterleitung der
Nervensignale entlang der Nervenfasern verantwortlich sind. „Man kann
sie sich wie Türen entlang eines Ganges vorstellen, die nacheinander
geöffnet und dann schnell wieder geschlossen werden“, sagt Schmelz, der
an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg im
Bereich der Experimentellen Schmerzforschung tätig ist. Das Platinsalz
wirkt nun wie eine Art „Fuß in der Tür“: Unter Kälte wird die Tür nicht
vollständig geschlossen, sondern springt wieder auf und schlägt so in
rascher Folge auf und zu. „Damit wird also das ursprüngliche
Nervensignal um ein Vielfaches gesteigert und der Patient fühlt die
Kälte als unnatürlich stark und unangenehm“, erklärt Schmelz. Calcium
kann dieses „Türklappern“ reduzieren und wird daher bei Patienten mit
Neuropathie zur Therapie eingesetzt.

Schaut
man sich die Wirkung von Kälte bei Patienten mit Nervenschmerzen, also
neuropathischen Schmerzen, an, fällt auf, dass sie Kälte nicht nur als
unangenehmer, sondern sogar als brennenden Schmerz empfinden. „Wir
bezeichnen diesen Effekt als Kaltschmerzüberempfindlichkeit, eine
Kälteallodynie. Auch Patienten, die mit Platinsalzen behandelt wurden,
können im späteren Verlauf einen solchen Nervenschmerz erleiden, der
dann aber völlig unabhängig von dem Medikament ist“, erklärt Schmelz.
Der Mechanismus, der diesen Schmerz hervorruft, ist noch ungeklärt.
Allerdings gibt es Hinweise, dass das „Türklappern“ bei diesen Patienten
nicht nur die Natriumkanäle der Nervenfasern für die Kaltempfindung
betrifft, sondern auch die für den Schmerz.

Eine
weitere Wirkung der Kälte betrifft die Eiweiße der Zellmembran
(Kaliumkanäle Kv1.1/2), die beim Abkühlen aktiviert werden und als
„Bremse“ der neuronalen Erregung beziehungsweise als Gegenspieler der
„Kaltfühler“ funktionieren. Fehlt nun diese Bremse, wirkt die Kälte viel
stärker und kann nun auch Nervenzellen mit sehr wenigen Kaltfühlern
aktivieren, die vorher nicht erregbar waren. „Selbst Nervenzellen, die
überhaupt keinen Kaltfühler besitzen, können durch einen ähnlichen
Mechanismus kälteempfindlich werden. Daher verspüren einige Patienten
mit Nervenschmerzen schon bei leichtem Abkühlen der Haut, beispielsweise
durch einen Luftzug, starke Schmerzen“, so Schmelz.

Neben
den speziellen „Kaltfühlern“ können also auch spezielle Kaliumkanäle
Schmerzen durch Kälte erklären. Medikamente, die eine Übererregbarkeit
von Nervenzellen durch ihre Wirkung an Kaliumkanälen erzielen, werden
bereits zur Behandlung von bestimmten Epilepsieformen eingesetzt. „Es
ist zu hoffen, dass dies in Zukunft auch für die Behandlung des
Schmerzes gelingt“, sagt der Präsident der Deutschen
Schmerzgesellschaft.

„Solange
wir die Wirkmechanismen nicht ganz durchschauen, ist es schwierig, eine
geeignete Therapie gegen die Schmerzen zu finden“, sagt Professor Dr.
med. Matthias Keidel, Kongresspräsident des Deutschen Schmerzkongresses
und
Chefarzt der Neurologischen Klinik am Campus Bad Neustadt/Saale.
Die Forschungen zu Temperaturänderungen und zur Erregbarkeit von
Nervenfasern helfen daher enorm, das zunächst verwirrend erscheinende
Bild mit scheinbar widersprüchlichen Effekten zu klären.

Auf
der Pressekonferenz am 12. Oktober zum Deutschen Schmerzkongress (11.
bis 14. Oktober 2017) diskutieren die Experten, welche diagnostischen
und therapeutischen Schlussfolgerungen aus einer kälteabhängigen
Verschlechterung beziehungsweise Reduktion von Schmerzen gezogen werden
können.