Journalist, vertrieben wegen Verschwörungstheorien, musste aus Ungarn fliehen

(Zeit Online) – Leipzig, Berlin, Social Media, die tägliche Begegnung mit Verschwörungserzählungen. Die Saat der Aufwiegler und Demokratiefeinde geht auch in Deutschland auf und untergräbt unsere Demokratie. Welche Parallelen es zu den Zuständen in Ungarn gibt und warum Deutschland nicht die gleichen Fehler machen sollte, beschreibt Goran Buldioski von den Open Society Foundations.

Ich musste aus Ungarn fliehen – wegen Viktor Orbán. Berlin ist mein neues Zuhause geworden. Ich fühle mich frei in meinem Charlottenburger Kiez mit all seinen Gegensätzen: Neuberliner und Urberliner, Konservative und Linke, coole Hipster und Leute wie ich – für alle scheint hier Platz zu sein und ich könnte fast die dunklen Tage in Viktor Orbáns Ungarn vergessen. Aber eben nur fast, denn der Schein trügt.

Ich arbeite für die Open Society Foundations. Wir unterstützen Organisationen, die unsere Demokratie stärken. Unser Gründer ist der ungarisch-amerikanische Holocaust-Überlebende und Philanthrop George Soros, der dazu beitragen will, eine gerechtere Welt zu schaffen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, das gefällt nicht allen. In Ungarn habe ich erlebt, wie sich absurde Verschwörungsmythen immer mehr festsetzen konnten – und so den Boden bereitet haben für unsere spätere politische Verfolgung. Am Ende wurden wir zu finsteren Gestalten degradiert. Wir konnten die Sicherheit unseres Teams in Budapest nicht mehr sicherstellen und flohen nach Berlin.

Jetzt habe ich Sorge, dass Deutschland ähnliche Fehler macht. Insbesondere die jüngsten Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen in Leipzig und Berlin beunruhigen, denn die zeugen von einem Diskurs, in dem sich – zum Teil legitimer – Protest mit menschenfeindlichem Verschwörungsglauben auf ungute Weise vermischen. Diese Verschwörungsmythen sind hanebüchen, aber deswegen nicht weniger wirksam. Sie bleiben in den Köpfen vieler Menschen hängen, verunsichern sie und machen sie instrumentalisierbar. Viele gehen auf die Straße – auch Seite an Seite mit Rechtsextremen, die ungehindert durch deutsche Innenstädte marschieren können. Sie beschwören geschichtsvergessen das Schreckgespenst eines Ermächtigungsgesetzes. Es ist so absurd, dass man sich gar nicht weiter damit befassen mag. Aber wir dürfen nicht wegsehen. Davon bin ich mit Blick auf unsere Erfahrung in Ungarn fest überzeugt.

Ansprechbar für unanständige Politiker
Deutschland ist nicht Ungarn. Aber auch hier wächst der Hass auf die sogenannte politische Elite. Und in Ungarn haben wir gesehen, was passiert, wenn Verschwörungsmythen größeren Anklang in der Gesellschaft und mediale Resonanz finden: Sie generieren automatisch politisches Kapital. Denn Menschen, die diesen obskuren Ideen anhängen, glauben, das „politische Establishment“ würde bestimmte Probleme ganz bewusst ignorieren. Sie wähnen dunkle Mächte am Werk. Und sind ansprechbar für unanständige Politiker, die sich als Heilsbringer dieser wütenden und angeblich ignorierten Masse inszenieren. Um zu sehen, wie das in der Praxis funktioniert, muss man nicht in die USA zu Donald Trump oder nach Ungarn zu Viktor Orbán schauen. Genau die gleiche Masche wendet die angebliche Alternative für Deutschland hier bei uns an.

Ich beobachte häufig, dass viele das Problem der Verschwörungsmythen unterschätzen. Es sei doch nur eine kleine Minderheit, die da versuche, den Bundestag zu stürmen. Diese Haltung ist bequem. Sie ist aber vor allem naiv. In Ungarn begann es mit einer Plakatkampagne, wonach Soros angeblich die Staatsgrenzen abschaffen und das Land mit muslimischen Einwanderern überfluten wolle. Sie zeigte einen mit Photoshop bearbeiteten grinsenden George Soros mit der Überschrift „Lass Soros nicht zuletzt lachen“. Die Mehrheit der Menschen in Ungarn erkannte genau, was das war: Lügen und Hetze. Aber sie schwiegen. Sie blieben still, weil sie dachten, keiner könnte das ernsthaft glauben. Bis es am Ende zu spät war, um die Hetze zu stoppen.