Lancet-Artikel entbehrt wesentlicher wissenschaftlicher Grundlagen
Wien (pte/15.09.2005/12:30) – Einige Wissenschaftler sind der Ansicht,
dass der Glaube an ein Heilverfahren die Linderung bzw. Heilung
bestimmter Symptome bewirkt, nicht das in der Homöopathie verwendete
Mittel selbst. Eine große Studie einer Forschergruppe um Matthias Egger
von der Universität Bern behauptet dies in der jüngsten Ausgabe des
angesehenen Wissenschaftsjournals "The Lancet"
http://www.thelancet.com. Die Autoren fordern, Ärzte sollten nun so
ehrlich sein, diese "Erkenntnis" auch ihren Patienten mitzuteilen. Doch
bei genauerer Betrachtung gibt es einige Unregelmäßigkeiten in der Art
wie das Ergebnis zustande gekommen ist, meinen Wiener Wissenschaftler
im pressetext-Interview.
Die Wissenschaftler um Egger planten ursprünglich, 110 Studien der
Homöopathie und die gleiche Zahl von konventionellen Studien
hinsichtlich der Wirksamkeit beider Methoden zu untersuchen. In allen
Studien trat der jeweilige Wirkstoff gegen ein Scheinmedikament
(Placebo) an. Weiters bewerteten sie die Untersuchungen nach
Teilnehmerzahl und methodologischer Qualität. Eine besonders gute
Bewertung wurde randomisierten doppelblinden Studien gegeben, das sind
Studien, bei denen weder die Teilnehmer noch die Mediziner wussten,
welche Substanz jeweils verabreicht wurde. Das sensationelle Ergebnis
dabei war: In diesen insgesamt 220 Studien zeigten sowohl die
Homöopathie als auch die konventionelle Medizin eine deutliche
Wirksamkeit.
Von diesen 220 Studien wurden dann so genannte "große, methodologisch
bessere" Untersuchungen, nämlich acht homöopathische und sechs
konventionelle Studien nochmals analysiert: Nun fanden die Autoren
plötzlich nur noch bei konventionellen Methoden einen spezifischen
Effekt, nicht jedoch bei der Homöopathie. "Diese Ergebnisse passen zu
der Annahme, dass die klinischen Effekte der Homöopathie
Placebo-Effekte sind", lautet die Schlussfolgerung im Lancet-Artikel.
Sie gehen von der Annahme aus, wenn nach einer homöopathischen
Behandlung eine Besserung zu bemerken sei, die auch mit einem
Scheinmedikament erreicht hätte werden können – notwendig sei lediglich
der Glaube an die Wirksamkeit des verabreichten Mittels.
Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus, gibt es aber einige
Anmerkungen, wie dies die Wiener Forscher Michael Frass von der Klinik
für Innere Medizin I am AKH-Wien http://www.meduniwien.ac.at, Ernst
Schuster vom BE für medizinische Statistik und Informatik an der
Medizinischen Universität und die Pharmazeutin Ilse Muchitsch im
pressetext-Gespräch bemerken. "Die aufregende Nachricht ist, dass
Homöopathie wirkt, wie in den Resultaten beschrieben wurde: bei beiden
Gruppen konnte ein günstiger Effekt gezeigt werden, wenn alle 110
Studien berücksichtigt wurden. Die Autoren anerkennen eine weniger
ausgeprägte Heterogenität bei den homöopathischen Studien. Zudem wurde
eine höhere Qualität der untersuchten Studien bei der Homöopathie
Gruppe konstatiert. "Hier herrscht weitgehende Übereinstimmung mit den
Autoren", kommentieren die Wiener Wissenschaftler.
Probleme gäbe es aber mit der Schlussfolgerung. "Zunächst bleibt es
selbst bei sorgfältiger Auswahl problematisch, Studien aus einem Pool
von 165 bei der Homöopathie mit mehr als 200.000 bei der
konventionellen Medizin zu vergleichen. Dieser Faktor von 1.000 enthält
bereits eine Asymmetrie in diesem Vergleich". Das sei vergleichbar mit
einer Fußballmannschaft: Wenn der Nationaltrainer die Möglichkeit,
Fußballer aus einem Land mit 80 Mio. Einwohnern auszuwählen, so hat er
eine größere Chance, gute Fußballer zu finden, als aus einem Land mit
acht Mio. Einwohnern.
Kritisiert wird von den Wiener Experten auch die Tatsache, dass weder
die Kurzfassung noch die Einleitung der Publikation ein klar
definiertes Studienziel enthalten. Zudem weicht das Design der Studie
von der tatsächlich angewandten Analyse ab und daher stellt die
ausführliche Beschreibung der Auswahl der Arbeiten und Datenbasen eine
Scheininformation dar: anstatt die durch ihre Ein- bzw.
Ausschlusskriterien gefundenen 220 Studien in ihrer Gesamtheit zu
analysieren, reduzieren die Autoren die Zahl der eingeschlossenen
Studien auf "größere Untersuchungen höherer Qualität". Bei Verwendung
dieser Untergruppen, scheinen die Resultate zwischen konventioneller
Medizin und Homöopathie unterschiedlich. Allerdings bleibt eine gewisse
Unsicherheit über die Auswahl dieser acht (Homöopathie) versus sechs
(konventionelle Medizin) Studien bestehen.
"Der Leser sollte im Auge behalten, dass diese Arbeit nicht, wie im
Titel suggeriert, Studien der Homöopathie mit Studien der
konventionellen Medizin vergleicht, sondern die spezifischen Effekte
der beiden Methoden in unabhängigen Analysen. Daher darf ein direkter
Vergleich aus dieser Studie nicht gezogen werden", argumentieren die
Wiener Forscher. "Hätten sie das nämlich getan, dann wäre kein
statistisch nachweisbarer Effekt übrig geblieben", lautet die
Schlussfolgerung. "Was die Autoren möglicherweise nicht ausdrücklich
wissen, ist, dass die größeren Studien selten klassische homöopathische
Interventionen sind: daher kann das Hauptprinzip der Homöopathie, die
individuelle Verordnung, nicht angewandt werden. Dadurch mangelt es der
Studie an einer Kenntnis dessen, was Homöopathie eigentlich
repräsentiert", schlussfolgern die Wiener.
"Beim Lesen der Studie waren wir zunächst überzeugt, dass die Autoren
das Bemühen hatten, mehr Information zum Leser zu bringen und den
Ärzten eine Hilfe zur Beratung der Patienten in die Hand zu geben."
Allerdings werde dieser Eindruck durch das Editorial völlig
überraschend verwischt, denn bereits der Titel impliziert die
Intention, diesen speziellen Artikel zu publizieren. Beim Lesen des
letzten Satzes "Nun müssen die Doktoren mutig und ehrlich mit ihren
Patienten sein" entstehe die Besorgnis, Lancet deutet an,
homöopathische Ärzte seien unehrlich.