Brief an eine Freundin, deren Tochter mit Studenten in Freiburg im Studententheater Frank Wedekinds ‚Frühlingserwachen‘ realisiert hat. Interessant ist, dass es eine ‚Luxemburger Zeitung‘ war, die die Initiative für würdig befand, darüber zu berichten.
Liebe Sabine,
das Stück habe ich selbst nicht verfolgen können, denn ich bin ja in Apulien, aber das hat mir die Zeit geschenkt, den interessanten Artikel zu lesen. Wie kommt es dazu, dass eine mir unbekannte Luxemburger Zeitung ihre Recherchen bis Freiburg ausbreitet. Allerdings weiß ich, dass Freiburg auch viele Luxemburger Studenten beherbergt. Vielleicht liegt es daran.
Jetzt zum Inhalt:
1. Die Auswahl des Stücks – wobei Deine Tochter eine wesentliche Rolle gespielt hat – war schon sehr einfallsreich. Ich möchte nicht auf die tiefenpsychologische Problematik der Gesellschaft eingehen, weil die in ihrer Prüderie sogar die Zeit übertrifft, in der wir uns in unserem Alter mit der Bourgeoisie auseinandersetzen mussten. In der konkreten Unterdrückung von durchaus auch heute noch stattfindender Gewalt, steckt auch ein gesellschaftlicher Zündstoff , der auch uns Journalisten unsicher machen muss.
Die Fragen im Interview waren sehr klug gestellt, auch die Antworten Deiner Tochter interessant, wenn auch sehr vorsichtig, dass allein dies schon wieder die Verhältnisse unserer Zeit unsere Zeit widerspiegelt. Aber verständlich.
Das lässt mich in unsere Jugend zurückblicken. Im September werde ich 85 Jahre alt. Oft benutze ich das Bonmot vom Vorteil der ‚frühen Geburt‘ im ausgehenden verbrecherischen 3. Reich, welches als 100jährig angelegt war. Dass das heute schon wieder eine Rolle spielt, hätte ich als Rebell der 68er nie gedacht. Aber mittlerweile ist mir dieses Glück extrem bewusst, konnte ich doch auch in meinem journalistischen Alltag so reden, wie der Schnabel mir gewachsen war, so schreiben, ohne von oben Weisungen berücksichtigen zu müssen. Das war richtig die ‚Gnade der frühen Geburt. Wenn ich mir vorstelle, wie selbst heute im ‚Gender-, Feminismus- und Rassismus-Wahnsinn‘ jedes einzelne Wort auf die Waagschale gelegt wird und unabsehbare Konsequenzen haben kann, hätte ich früher gedacht, mir würden Ketten angelegt. Das alles in einer Zeit, in der viel wichtigere andere Probleme zu lösen sind. Ich habe den Eindruck, als befinden wir uns im vornehmen Salon der Titanic und streiten über die Gestaltung des abendlichen Dinner, und ob getanzt werden kann oder nicht. Der Salon befand sich bei der Titanic übrigens dort, wo die Übersicht nach draußen fehlte. Es war üblich zu schwelgen, zu kulturen und sich so satt zu essen, dass – wie heute – dem Übergewicht nicht mehr ausgewichen werden konnte, aber keiner bemerkte das. Die Schiffscrew hatte das Sagen, Widerspruch wurde verachtet.
Trotzdem großes Kompliment an die Initiative Deiner Tochter – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wenn Ihr einmal im Rheinland seid, lade ich Euch gerne zu mir ein. Ein Gästezimmer steht bereit, und die Pützerosa – eine Art Modell der Arche, gebaut auf Nachhaltigkeit, ist eine Reise wert.
Mit herzlichem Gruß auch an Deine Tochter
Dein Jean
(woxx) – Der Freiburger Interessenverband studentisches Theater (Fist*) fordert das Publikum in „Frühlings Erwachen – Eine Adaption Ihrer Wahl“ zum Handeln auf: Im digitalen Theatersaal entscheiden die Zuschauer*innen, welche Wendungen Frank Wedekinds Klassiker „Frühlings Erwachen“ nimmt. Maya Rollberg aus dem Regieteam spricht mit der woxx über die Textauswahl und unerwartete Reaktionen.
woxx: „Frühlings Erwachen – Eine Kindertragödie“ von Frank Wedekind ist ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. Warum dieses und kein anderes Stück für das interaktive Theaterprojekt des Fist*, Maya Rollberg?
Maya Rollberg: „Frühlings Erwachen“ beschreibt verschiedene Tragödien von Jugendlichen, die sich vor allem durch die gesellschaftliche Repression, die sie erfahren, entwickeln. Das Stück prangert die strukturelle Bevormundung und die damit einhergehende gesellschaftliche Tabuisierung vorrangig sexueller Themen an, welche dennoch häufig wie sprießende Pflanzen ihren Weg durch den Asphalt des augenscheinlich Gutbürgerlichen finden. Besonders die Jugend, die im Drama im Begriff ist sich, ihren Körper und ihr Umfeld unter den sehr repressiven gesellschaftlichen Umständen zu erkunden, verleiht ihren Krisen auf unterschiedliche und teilweise erschreckende Weise Ausdruck.
Habt ihr das Stück an die Gegenwart angepasst?
Der Text ist bis auf unseren Prolog nicht an die heutige Zeit angepasst. Die Stückwelt bleibt bis auf die Brüche mit den Interaktionen von der heutigen Zeit unberührt.
Die Jugend von heute hat aber vermutlich mit anderen Repressionen zu kämpfen als die des 19. Jahrhunderts.
Die Problematik ist nach wie vor so relevant wie noch vor 130 Jahren. Dies wurde auch in der Bearbeitung des Stücks deutlich, in dem viele Teammitglieder feststellen mussten, dass sie selbst Erfahrungen mit den Themen haben, die individuell verarbeitet werden müssen. Das hat uns oft vor Herausforderungen, aber auch vor viele Chancen gestellt.
Stichwort Herausforderungen: Auf der Website zu eurem Stück steht, dass die Premiere aufgrund unvorhersehbarer Reaktionen vom 23. auf den 29. Juli verschoben werden musste. Was ist vorgefallen?
Die Themen und Problematiken sind so heftig, dass es auch nach langer Bearbeitung zu unerwarteten Reaktionen kommen kann. Insbesondere wenn etwas mal anders läuft als geplant. Wir möchten das Ensemble schützen und dies nicht weiter erläutern, uns ist nur allen deutlich geworden, wie wichtig eine angebrachte Bearbeitung der Themen ist.
Was macht ihr, damit das gelingt?
Wir wollen in unserer Gruppe im Anschluss an die Produkion eine psychotherapeutische Begleitung durch Supervision durchführen. Wir haben die explizite Darstellung der Gewalt nun reduziert und damit den Schutz des Ensembles sichergestellt.
Wie viel Gewalt in dem Stück vorkommt, liegt am Ende wahrscheinlich auch an den Entscheidungen, die die Zuschauer*innen treffen. Gibt es eine Variante, die dem Originaltext treu bleibt?
Ein Handlungspfad kann gewählt werden, der tatsächlich genau das Originalstück nachstellt.
Und wie viele weitere Handlungsstränge sind möglich?
Dies möchten wir vorab nicht mitteilen. Es soll ja spannend bleiben (lacht).
Frühlings Erwachen – Eine Adaption Ihrer Wahl. Online auf der Website uni.theater/wedekindadaption vom 31. Juli bis zum 1. August, um 20 Uhr. Link zum Ticketkauf auf derselben Website.