Forscher entdecken die Bedeutung von Kalium-Kanälen in unseren Zellen

Pharmakologischer Generalschlüssel zur Beruhigung von Nervenaktivität entdeckt

Internationales
Forschungsteam unter Leitung von Kieler Physiologinnen und Physiologen
entdeckt neuen pharmakologischen Mechanismus in Kaliumkanälen, mit
diesem könnte zu hohe elektrische Aktivität in Nerven- oder Muskelzellen
eingedämmt werden.

Elektrische
Signale bilden die Grundlage vieler Lebensvorgänge – sie ermöglichen,
dass das Herz schlägt, und dass wir denken, sehen, hören, schmecken,
riechen oder tasten können. Überschießende elektrische Aktivität von
Nerven- oder Muskelzellen kann aber auch schädlich sein und etwa zu
Epilepsie, unregelmäßiger Herztätigkeit (Herzarrhythmien),
Bluthochdruck, Migräne und anderen Schmerzzuständen führen. Elektrische
Signale entstehen durch das gezielte Öffnen und Schließen von
sogenannten Ionenkanälen. Dabei handelt es sich um Poren in der
Zellmembran, durch die elektrisch geladene Teilchen (zum Beispiel
Natriumionen und Kaliumionen) transportiert werden. Daher ist es nicht
verwunderlich, dass viele Medikamente auf Ionenkanäle wirken, und dass
insbesondere Medikamente, die überschießende elektrische Aktivität
reduzieren, von großem pharmakologischem Interesse sind. Die
Pharmakologie ist die Wissenschaft von der Wechselwirkung zwischen
Stoffen und Lebewesen.

Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern am Physiologischen Institut der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) haben jetzt einen
neuartigen Mechanismus entdeckt, der wie ein Generalschlüssel bestimmte
Ionenkanäle gleichzeitig öffnet und dadurch überschießende Aktivität in
Zellen unterdrücken könnte. Die Entdeckung könnte der Pharmaindustrie
helfen, neue Medikamente mit weniger Nebenwirkungen zu entwickeln. Die
Ergebnisse veröffentlichten die Kieler Forschenden vergangenen Freitag
(22. Februar) in dem renommierten Wissenschaftsjournal Science.

Die
Kieler Arbeitsgruppe „Ionenkanäle“ um Professor Thomas Baukrowitz
erforscht die molekulare Biophysik von Ionenkanäle, also jene Prozesse,
die zum Öffnen und Schließen von Ionenkanälen in der Zelle führen. Dabei
liegt der Forschungsschwerpunkt auf einer besonderen Klasse der
Ionenkanäle, den sogenannten Kaliumkanälen (K+ Kanäle). Im menschlichen
Körper gibt es etwa 80 verschiedene Varianten von Kaliumkanälen, von
denen viele die Aufgabe haben, überschießende elektrische Aktivität in
Nerven- und Muskelzellen zu unterdrücken. Ohne diese elektrische
Beruhigung würden Zellen durch Übererregung absterben. 

„Kaliumkanäle
sind für uns Grundlagenforscher deshalb so interessant, weil sie
vielseitig regulierbar sind: Sie lassen sich durch Spannung, Temperatur
oder mechanischen Stress öffnen – aber auch durch den Einsatz bestimmter
Substanzen“, erklärt Baukrowitz. Solche Substanzen befinden sich in
einem Teststadium und sind noch nicht für Versuchsreihen oder den
Pharmamarkt zugelassen. Über den Mechanismus, wie diese Substanzen
wirken, war aber bisher nur wenig bekannt. In ihrer Publikation deckt
das Forschungsteam auf, dass eine Reihe schon lange bekannter Substanzen
(Versuchspharmaka) nicht wie ursprünglich gedacht spezifisch auf nur
eine Sorte von Kaliumkanäle wirken, sondern gleichzeitig viele
unterschiedliche Kaliumkanäle öffnen. Diese Vielfachwechselwirkung
(Polypharmakologie) war bis dahin für Kaliumkanäle unbekannt.

Das
veranlasste die Kieler Physiologen Professor Thomas Baukrowitz und Dr.
Marcus Schewe, den Mechanismus dahinter zu entschlüsseln – mit
internationaler Beteiligung. Dabei nutzten die Kieler Wissenschaftler
ein Netzwerk von Kooperationen wissenschaftlicher Arbeitsgruppen aus
Berlin, Marburg, Göttingen, Freiburg, Oxford und Talca/Chile. Durch die
unterschiedlichen Methoden – wie Computersimulationen,
Röntgenstrukturaufklärung, Molekularbiologie und Elektrophysiologie –
war es möglich, den exakten Bindungsort der Versuchspharmaka in den
Kaliumkanälen zu bestimmen und den Wirkmechanismus zu verstehen.

„Es
ist uns gelungen, eine pharmakologische Substanzklasse zu finden, die
neun von etwa 80 Kaliumkanälen gleichzeitig öffnet“, so Baukrowitz.
Erstautor Schewe ergänzt: „Außerdem haben wir herausgefunden, dass bei
allen Kanälen der gleiche Ort betroffen ist, an dem sich der Kanal
öffnet: am sogenannten Selektivitätsfilter. Der Selektivitätsfilter hat
die Funktion, nur Kaliumionen, nicht aber zum Beispiel Natriumionen
durch die Pore zu lassen.“ Das Besondere: Bei einigen Kaliumkanälen
verhält sich der Selektivitätsfilter wie eine Klappe, die erst durch
bestimmte Stimuli wie etwa elektrische Signale, Temperatur oder
mechanischen Druck geöffnet wird. „Wir fanden heraus, dass die
Versuchspharmaka direkt unterhalb dieser ‚Klappe‘ binden und diese durch
bestimmte Wechselwirkungen öffnen. Ähnlich einem Generalschlüssel
öffnen die Substanzen alle K+ Kanäle mit diesem Klappenmechanismus
gleichzeitig“, erzählt Schewe. Baukrowitz fügt hinzu: „Die
Versuchssubtanzen zweckentfremdeten gewissermaßen die natürliche
Funktionsweise der Kanalpore, um diese zu öffnen. Dass dieser
Klappenmechanismus in verschiedenen Sorten von Kaliumkanälen auf sehr
ähnliche Weise funktioniert, war so nicht bekannt und liefert ein
besseres Verständnis der Funktionsweise von Kaliumkanälen.“

Anhand
von Molekulardynamik-Simulationen in Kombination mit
röntgenkristallographischen und funktionellen Mutagenese-Daten konnte
die Forscherin Dr. Han Sun vom Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare
Pharmakologie in Berlin bestimmen, wo genau die negativ geladenen
Aktivatoren sich in den Kanälen befinden. Anhand von aufwendigen
Computersimulationen, die sie zum Teil am Norddeutschen
Hochleistungsrechenzentrum (HLRN) umsetzte, konnte der Ionenfluss durch
den Selektivitätsfilter simuliert werden. Aus dieser Analyse konnten die
Kieler Forscher den Mechanismus entschlüsseln.

Nebenwirkungen von Medikamenten reduzieren

Das
Wissen darum, wie die Testpharmaka in Kaliumkanälen wirken, könnte
beispielsweise Pharmaunternehmen helfen, effizientere neue Medikamente
zu entwickeln, insbesondere bei solchen, die zur Behandlung von
Krankheiten wie Epilepsie, Herzrhythmusstörungen (Arrhythmien),
Gefäßverengungen oder verschiedenen Schmerzzuständen zum Einsatz kommen.
„Auch könnte der neue Mechanismus es ermöglichen, bestimmte
Kaliumkanäle im Herzen davor zu schützen, durch Medikamente blockiert zu
werden“, meint Schewe. „Dadurch könnten Nebenwirkungen von Medikamenten
reduziert werden.“

Originalpublikation:
"A
pharmacological master key mechanism that unlocks the selectivity
filter gate in K+ channels". Marcus Schewe, Han Sun, Ümit Mert,
Alexandra Mackenzie, Ashley C. W. Pike, Friederike Schulz, Cristina
Constantin, Kirsty S. Vowinke, Linus J. Conrad, Aytug K. Kiper, Wendy
Gonzalez, Marianne Musinszki, 
Marie
Tegtmeier, David C. Pryde, Hassane Belabed, Marc Nazare, Bert L. de
Groot, Niels Decher, Bernd Fakler, Elisabeth P. Carpenter, Stephen J.
Tucker, Thomas Baukrowitz.
 Science  22 Feb 2019: Vol. 363, Issue 6429, pp. 875-880, DOI:  10.1126/science.aav0569. http://science.sciencemag.org/content/363/6429/875

Ein Foto und eine Abbildung stehen zum Download bereit:
www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2019/050-mechanismus-kaliumkanaele.jpg
Bildunterschrift:
(links) Erstautor Dr. Marcus Schewe (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Physiologischen Institut der CAU) und Professor Thomas Baukrowitz
(Leiter der Arbeitsgruppe „Ionenkanäle“ am Physiologischen Institut der
CAU) an einem sogenannten Patch-Clamp-Messplatz, der auch im Rahmen der
Untersuchung zum Einsatz kam.

© Jürgen Haacks, Uni Kiel

www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2019/050-grafik-schluessel-kaliumkanaele.png
Grafik:
Schematische Darstellung eines Kaliumkanals, der den Bindungsort der
Versuchspharmaka (hier als Schlüssel dargestellt) am sogenannten
Selektivitätsfilter (Bindungsort der K+ Ionen) zeigt. Die bunten Pfeile
symbolisieren die Vielzahl von natürlichen Mechanismen, die in Zellen
den Selektivitätsfilter öffnen.

© Physiologisches Institut

Kontakt:
Professor Dr. Thomas Baukrowitz