Diese persönliche Antwort eines kompetenten Mathematikers auf einen Brief von mir, möchte ich meinen Freunden nicht vorenthalten. Er beschreibt treffend die Kalamitäten zwischen Politik und Bürger. Wo bleibt die Vernunft der Machthabenden?
Jean Pütz
Briefantwort von Prof. Ulrich Trottenberg:
Lieber Jean,
Dein Einsatz für die Akademie und für mich persönlich beeindruckt mich sehr (und macht mich, was meine Person angeht, auch ein bisschen verlegen).
Ich schätze übrigens Armin Laschet auch sehr, ich fürchte nur, dass er durch die wechselnden Positionen, die er in letzter Zeit eingenommen hat, an Rückhalt in der Öffentlichkeit und auch in der CDU verloren hat. Aber ich denke wie Du, dass er in NRW bleiben sollte und dort seine insgesamt erfolgreiche Arbeit mit der FDP fortsetzen sollte. (Nur Yvonne Gebauer macht z.Z. keine besonders gute Figur, nach allem, was ich von meinen Enkeln über den Schulbetrieb so mitbekomme.)
Was unsere gemeinsame Sache und unsere Ziele angeht, ein algorithmisches Verständnis und damit eine aktive Offenheit für die fundamentalen digitalen Entwicklungen in die Schulen und möglichst auch in die Öffentlichkeit zu bringen – davon bin ich unverändert überzeugt. Dass wir, obwohl unsere Konzeption vom Schulministerium seit Monaten akzeptiert ist, immer noch mit ministerialbürokratischen und „vergaberechtlichen“ Hindernissen zu kämpfen haben, das kann einen schon mürbe machen. Nachdem wir immer wieder auf die Wünsche und Vorstellungen unseres Ansprechpartners im Ministerium eingegangen sind, erwarte ich jetzt vom Ministerium die Bewilligung unseres Antrags oder zumindest einen konstruktiven Vorschlag, wie es weitergehen kann.
Die bürokratischen Hindernisse, ob sie jetzt eher ein Ausdruck von Ängstlichkeit, von Überperfektion oder Inkompetenz sind, findet man ja leider nicht nur im Digitalen, sondern drastisch auch im Impf-Chaos (das sich hoffentlich allmählich auflöst). Die Impfkommission Stiko hat m.E. grobe Fehler gemacht hat. Ich kann mir die statistische Inkompetenz der Stiko nur so erklären, dass die Mitglieder der Stiko zu einer Zeit benannt und berufen worden sind, als statistische Kompetenz noch keine besondere Bedeutung hatte. Aber dass die Politik (und nicht nur die Politik, sondern auch das RKI, das PEI, der Ethikrat usw.) die Stiko einfach so gewähren lässt und ihre Entscheidungen vom Stiko-Votum abhängig macht, wie das geschehen ist – das ist kaum zu verstehen und zeigt m.E. ein strukturelles Problem.
Und wenn sich die Politik auf „die Wissenschaft“ oder „die Wissenschaftler“ beruft – auch daran störe ich mich. Es gibt „die“ Wissenschaft ja nicht, und in diesen auch wissenschaftlich extrem unübersichtlichen Zeiten schon gar nicht. Und wenn mit „den Wissenschaftlern“ die immer gleichen Talkshow-Wissenschaftler gemeint sind, ärgert mich das besonders. Natürlich gibt es in den Talkshows durchaus auch kluge, kompetente Beiträge. Aber wenn es z.B. um die Corona-Ausbreitungsmodellierung geht, sieht man meine für Modellierung hochkompetenten und aktiven Mathematik-Kollegen im Fernsehen überhaupt nicht.
In diesem Zusammenhang: Ich schätze Deine – bisweilen durchaus kontroversen – Diskussionsbeiträge sehr, z.B. Deinen Ostergruß. Wie Du sehe ich – trotz wissenschaftlicher und technologischer Brillanz in vielen Bereichen – ein massives Umsetzungsproblem in Deutschland: eine unflexible (Ministerial-)Bürokratie und mangelnde Risikobereitschaft. Wir hinken oft weit hinter den Möglichkeiten her. Da haben wir es mit einem Systemfehler zu tun, der sich in unvorhersehbaren Zeiten wie diesen besonders deutlich zeigt.
Ich bin ja dabei, einen möglichst einfachen Text zur „Corona-Mathematik“ zu schreiben. Das ist reizvoll, erweist sich aber als nicht ganz einfach, weil Corona eine Vielzahl mathematischer Teildisziplinen berührt. Der Text soll einerseits einfach und für die breite Öffentlichkeit verständlich sein, sollte aber nicht ins Banale abrutschen. Ich schreibe über Zahlen, Kurven, Statistik und Modelle. Das geht mit Dreisatz los und könnte bis hoch hinauf in stochastische Differentialgleichungssysteme (mit Zeitverzögerung) und darüber hinaus in die KI führen. Das geht natürlich nicht. Da den richtigen, verständlichen Mittelweg zu finden – da bin ich noch dran.
Mit lieben Grüßen und noch einmal herzlichem Dank für Deine Unterstützung und Dein Engagement
Dein Ulrich