Müllmenge in der arktischen Tiefsee steigt stark an
Meereis könnte ein Transportmittel für Plastikmüll sein
Bremerhaven, 8. Februar 2017. Die Arktis hat ein Müllproblem. Innerhalb
von zehn Jahren ist die Verschmutzung an einem Messpunkt in der
arktischen Tiefsee um mehr als das 20-fache gestiegen. Dies ergab eine
Studie von Wissenschaftlerinnen des Alfred-Wegener-Instituts,
Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI).
Plastiktüten, Glasscherben und Fischernetze: Trotz der Lage fernab von
Ballungszentren nimmt die Müllmenge in der arktischen Tiefsee immer
weiter zu und stellt somit eine dauerhafte Gefahr für das sensible
Ökosystem dar. Seit 2002 dokumentieren AWI-Wissenschaftlerinnen den Müll
an zwei Messpunkten im sogenannten AWI-Hausgarten. Dabei handelt es
sich um ein Tiefsee-Observatorium des Alfred-Wegener-Instituts, das aus
21 Messstationen in der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen
besteht. Die Ergebnisse der Langzeitstudie wurden nun in der
Fachzeitschrift Deep-Sea Research I veröffentlicht. „Unsere Messreihe
belegt, dass der Müll in der arktischen Tiefsee in den vergangenen
Jahren stark zugenommen hat“, sagt Erstautorin Mine Tekman.
Die an der Studie beteiligten Wissenschaftlerinnen haben an den beiden
Messpunkten den Meeresgrund in einer Tiefe von 2500 Metern beobachtet.
Dafür nutzten sie das ferngesteuerte Kamera-System OFOS (Ocean Floor
Observation System). Seit Beginn der Messung haben sie auf insgesamt
7058 Fotos 89 Müllteile entdeckt. Da sie mit den Kameras nur ein relativ
kleines Gebiet beobachten können, haben die Wissenschaftlerinnen die
Mülldichte auf eine größere Fläche hochgerechnet. So kommen sie in dem
Untersuchungszeitraum von 2002 bis 2014 auf einen Durchschnittswert von
3485 Müllteilen pro Quadratkilometer. Gerade in den letzten Jahren zeigt
die Mülldichte allerdings einen deutlichen Aufwärtstrend. Als die
Wissenschaftlerinnen für 2011 eine Verschmutzung von 4959 Müllteilen pro
Quadratkilometer ausgerechnet hatten, hofften sie noch, dass der hohe
Wert ein Ausreißer sei. Doch die Mülldichte ist seitdem noch weiter
angestiegen und erreichte im Jahr 2014 mit 6333 Müllstücken pro
Quadratkilometer einen neuen Höchstwert.
Besonders dramatisch ist die Situation an der nördlicheren Messstation
mit dem Namen N3. „Hier ist die Verschmutzung in den Jahren von 2004 bis
2014 um mehr als das 20-fache gestiegen“, sagt AWI-Biologin Mine
Tekman. Betrachtet man nur die Ergebnisse des nördlichen
Untersuchungsgebietes in der Eisrandzone, ergab die Messung im Jahr 2004
noch 346 Müllteile pro Quadratkilometer. Zehn Jahre später betrug die
Mülldichte 8082 Teile pro Quadratkilometer. Damit ist die Belastung an
dieser Stelle nahezu identisch mit der höchsten jemals gemessenen
Mülldichte im östlich der Iberischen Halbinsel gelegenen Cap de Creus
Canyon.
Die Wissenschaftlerinnen konnten unter den fotografierten Müllteilen vor
allem Plastik und Glas ausmachen. Glas driftet nicht über größere
Distanzen, sondern sinkt sofort an Ort und Stelle auf den Meeresgrund.
Die Messreihe zeigt entsprechend, dass die Mülldichte in der arktischen
Tiefsee mit der Intensivität der Schifffahrt in der Region zunimmt. Über
die genaue Herkunft des Plastikmülls lässt sich dagegen kaum etwas
sagen. Denn meist hat das Plastik schon eine weite Reise hinter sich,
bevor es den tiefen Meeresgrund erreicht. Allein mit Fotos können die
Wissenschaftlerinnen in den meisten Fällen nicht den Ursprung bestimmen.
Unbestritten ist der Einfluss des Golfstroms auf die Verbreitung von
Plastikmüll in der Arktis, der diese Teile aus den südlichen
Atlantikregionen in die Framstraße transportiert. Allerdings haben die
Autorinnen und Autoren des Artikels auch eine neue Theorie, wie das
Plastik dorthin gekommen sein könnte. Ihre Beobachtungen zeigen einen
Zusammenhang zwischen der Mülldichte und der Meereis-Ausdehnung im
Sommer. „Das Meereis könnte demnach ein Transportmittel für Müll sein
und diesen während der Schmelzperiode im untersuchten Gebiet freigeben“,
sagt Tiefseebiologin Dr. Melanie Bergmann, Koautorin der
Veröffentlichung. „Bislang haben wir das Gegenteil erwartet, da wir das
Eis eher als eine Barriere gegen die Verschmutzung betrachteten.“
Die Wissenschaftlerinnen stehen noch vor einem Rätsel, wann und wie sich
der Plastikmüll auf dem Weg in die Tiefsee verändert. Im Laufe der Zeit
beobachteten sie immer mehr kleine Plastikteile, was die Fragmentierung
größerer Teile und eine zunehmende Belastung mit Mikroplastik nahelegt.
Das ist verwunderlich, weil Plastikmüll in der dunklen Tiefsee nicht
etwa durch UV-Licht zersetzt werden kann und auch die niedrigen
Temperaturen einen Zerfall nicht begünstigen. Im Sommer 2016 haben die
Wissenschaftlerinnen einen bereits zwei Jahre zuvor gesichteten
Plastikfetzen wiederentdeckt. In dieser Zeit hat er sich nicht erkennbar
verändert. Melanie Bergmann meint: „Diese zweimalige Begegnung zeigt
eindrücklich, dass die arktische Tiefsee ein Endlager für Plastikmüll zu
werden droht. Die Ablagerung in der schwer zugänglichen Tiefsee könnte
zum Teil auch erklären, warum wir über den Verbleib von 99 Prozent des
Plastikmülls derzeit nichts wissen.“
Hintergrund zum AWI-Hausgarten und zum OFOS-Kamera-System:
Der AWI-Hausgarten ist das Tiefsee-Observatorium des
Alfred-Wegener-Instituts in der Framstraße. Es besteht zurzeit aus 21
Stationen, die Wassertiefen von 250 bis 5500 Meter umfassen. Seit dem
Jahr 1999 werden an diesen Stationen alljährlich in den Sommermonaten
Probennahmen durchgeführt. Der ganzjährige Einsatz von Verankerungen und
Freifallgeräten, die als Observationsplattformen am Meeresboden dienen,
ermöglicht es, saisonale Veränderungen zu erfassen. Unter Einsatz eines
ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugs (Remotely Operated Vehicle, ROV)
werden in regelmäßigen Zeitabständen gezielte Probennahmen vorgenommen,
autonom messende Instrumente positioniert oder betreut, und in situ
Experimente durchgeführt. Der AWI-Hausgarten repräsentiert eine der
Schlüsselregionen im Europäischen Network of Excellence ESONET (European
Seas Observatory Network) und ist Teil des deutschen Long Term
Ecological Research-Netzwerks (LTER-D).
Die Tiefsee-Forscher am Alfred-Wegener-Institut setzen bei
Polarstern-Expeditionen zum AWI-Hausgarten regelmäßig ihr
ferngesteuertes Kamera-System OFOS (Ocean Floor Observation System) ein.
An zwei Messpunkten schwebt es dort in einer Wassertiefe von 2500
Metern etwa 1,5 Meter über dem Meeresboden und macht alle 30 Sekunden
ein Foto. Diese Aufnahmen dienen den Tiefseebiologen vor allem dazu,
Veränderungen in der Artenvielfalt von größeren Tiefseebewohnern wie
Seegurken, Seelilien, Schwämmen, Fischen und Garnelen zu dokumentieren.