Fettleibigen Menschen wird Therapie oftmals vorenthalten

Viszeralmedizin 2016

Fettleibigen Menschen wird wirksame Therapie oftmals vorenthalten

Hamburg/Berlin
– Adipositas ist eine Ernährungs- und Stoffwechselkrankheit – so
zumindest definiert sie die WHO. Anders jedoch als in europäischen
Nachbarstaaten bleibt Betroffenen in Deutschland eine Versorgung nach
medizinisch-wissenschaftlichem Standard oftmals versagt. Denn die
nachgewiesenermaßen wirksamste Form der Therapie – ein
adipositas-chirurgischer Eingriff – wird hierzulande selbst bei
leitliniengerechter Indikation nur nach Einzelfallprüfung und
unregelmäßig von den Krankenkassen übernommen. So treten bei den meisten
Betroffenen Folgeerkrankungen auf, durch die die Adipositas immer
schwieriger und komplexer zu behandeln wird. Krankhaft fettleibige
Menschen seien in Deutschland stigmatisiert und eklatant unterversorgt,
sagen Experten der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und
Viszeralchirurgie im Vorfeld des Kongresses Viszeralmedizin 2016. Sie
fordern ein Umdenken bei der Betrachtung und Behandlung der Adipositas.

Chirurgische
Maßnahmen zur Reduzierung des Übergewichts, etwa ein Magenbypass oder
die Bildung eines Schlauchmagens, empfehlen Ärzte nur bei extremer,
krankhafter Fettleibigkeit und nach Versagen oder nicht aussichtsreicher
konservativer multimodaler Therapie. Sie kommen nach aktuellen
Leitlinien ab einem Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 40 kg/m² in
Frage, oder ab 35 kg/m², sofern bereits schwere Folgeerkrankungen wie
Diabetes vorliegen. In Deutschland erfüllen diese Kriterien aktuell rund
zwei Millionen Menschen. Adipositaschirurgische Eingriffe wurden 2015
allerdings nur bei 9932 Betroffenen durchgeführt. In westlichen
Nachbarländern wie Frankreich, Belgien oder den Niederlanden liegen die
Eingriffszahlen im Verhältnis zur Bevölkerung deutlich höher.

„Hierzulande
fehlt bedauerlicherweise die Einsicht, dass Adipositas eine Erkrankung
ist und auch so behandelt werden muss“, sagt Professor Dr. med.
Christoph-Thomas Germer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für
Allgemein- und Viszeralchirurgie und Kongresspräsident der
Viszeralmedizin 2016. „Derzeit sieht die Genehmigungspraxis der
gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland so aus, dass eine Behandlung
nach medizinisch-wissenschaftlichem Standard weitgehend verhindert wird –
krankhaft Übergewichtigen wird evidenzbasierte Hochleistungsmedizin
damit vorenthalten.“

Dabei
sei der medizinische Nutzen der Eingriffe durch zahlreiche
aussagekräftige Studien belegt. „Es ist völlig unstrittig, dass die
Adipositaschirurgie beim überwiegenden Teil der Patienten zu einem
relevanten und nachhaltigen Gewichtsverlust führt, zu einer verbesserten
Lebensqualität und – was noch sehr viel wichtiger ist – zu einer
signifikanten Verbesserung von Begleiterkrankungen wie Diabetes und
Herz-Kreislauf-Leiden“, so Privatdozent Dr. med. Florian Seyfried,
Oberarzt der Chirurgischen Klinik und Poliklinik des
Universitätsklinikums Würzburg.

Gerade
bei extremer Fettleibigkeit scheiterten konservative Programme zur
Gewichtsreduktion langfristig regelhaft, so die Mediziner. „Bei einem
BMI von 40 kg/m² und mehr, wäre eine Gewichtsabnahme von mitunter 50
Kilogramm notwendig – dies ist durch Ernährungsumstellung und Bewegung
nur im Ausnahmefall zu schaffen, selbst wenn diese Maßnahmen durch Ärzte
und Ernährungstherapeuten begleitet werden“, so Seyfried. Auch deshalb,
weil der Körper evolutionär bedingt außergewöhnlich effektive
Verteidigungsstrategien auffahre, um Energiereserven zu schützen.

„Ohne
Zweifel ist die Prävention des Übergewichts und seiner Ursachen –
Bewegungsmangel und Fehlernährung – eine wichtige
gesamtgesellschaftliche Aufgabe, um Folgeerkrankungen und Folgekosten zu
verhindern“, betont Kongresspräsident Germer. „Gleichzeitig ist es
nicht akzeptabel, dass Menschen mit krankhaftem Übergewicht wirksame
Therapien vorenthalten werden.“ Die Betrachtung und Behandlung der
stigmatisierten Erkrankung Adipositas müsse sich dringend ändern,
fordert Germer.

Die Tagung Viszeralmedizin 2016 ist der gemeinsame Kongress der Deutschen Gesellschaft für
Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS), deren
Sektion gastroenterologische Endoskopie und der Deutschen Gesellschaft
für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV). Der Kongress findet vom 21.
bis 24. September 2016 in Hamburg statt.
Weitere Informationen unter: www.viszeralmedizin.com