(FOCUS) – Paul Niederstein, der Leiter des ältesten Familienunternehmens Deutschlands, hat in einem Interview über die aktuellen Herausforderungen für die Industrie in Deutschland gesprochen. Dabei betonte er, wie ernst die Lage sei – und wie wichtig es sei, klare Ziele für den Standort zu setzen.
In Anbetracht der über 500-jährigen Tradition seines Unternehmens Coatinc Company betonte Niederstein gegenüber „Welt“, dass die Geschichte eine wichtige Rolle spiele, aber momentan gehe es mehr um die gesamte Branche als um sein Unternehmen allein. „Das Bewusstsein, dass es auch schon in der Vergangenheit immer wieder Krisen gab, ob Kriege, die Währungsunion, Hyperinflation oder etwas anderes, macht da resilienter,“ sagte Paul Niederstein zur „ Welt “.
Dann schlägt er Alarm: „Aber zugegeben: was wir jetzt erleben, betrachte ich als problematischer, da wir neben den exogenen Schockfaktoren wie dem Krieg in der Ukraine auch innenpolitische Probleme haben. Was wir hier erleben, ist eine hausgemachte Krise – angefangen mit einer völlig fehlgeleiteten Energiepolitik.“
„Unsere Energiewende wäre im Moment ohne Produktion im Ausland gar nicht möglich“
Angesichts der pessimistischen Prognosen für die Industrie beurteilte Niederstein die Lage auf einer Skala von „null bis zehn“ als „sieben bis acht“ und erklärte, dass die mangelnde Demut der Politik in Berlin und Europa ein Hauptgrund für die Schwierigkeiten sei. „Die Gefahr dabei ist, dass, wenn sich nichts ändert, die Rahmenbedingungen für den Standort Deutschland noch schlechter werden. Und die Rahmenbedingungen sind schlecht wegen der Politik und nicht wegen der Weltwirtschaft“, so Niederstein weiter.
Der Unternehmer betonte die Notwendigkeit klarer Ziele für den Industriestandort Deutschland und wies auf die Bedeutung eines klugen Umgangs mit den Herausforderungen des Klimawandels und der Transformation hin. Er kritisierte die derzeitigen Energiepreise als nicht wettbewerbsfähig und verdeutlichte, dass Schlüsselindustrien ihre Produktion vermehrt ins Ausland verlagerten. „Der Staat als Unternehmer muss sich auch seiner Konkurrenz bewusst sein“, erklärte Niederstein.
Ein Beispiel, das Niederstein anführte, waren verzinkte Stahlmodule in Windkraftanlagen, die hauptsächlich aus Asien stammen. „Unsere Energiewende wäre im Moment also ohne Produktion im Ausland gar nicht möglich. Die Politik zählt da eins und eins nicht zusammen“, hob Niederstein hervor. Er betonte, dass Deutschland von einer Reindustrialisierung profitieren könne, indem es seine höheren Umweltstandards in den Vordergrund stellt.
Unternehmer warnt vor political correctness, „wenn sie an der Realität vorbeigeht“
Niederstein erklärte, dass der Fachkräftemangel ein großes Problem darstelle und dass die Politik hierbei eine Rolle spiele. „Unsere Industrie braucht Leute, die morgens um sechs Uhr zur Arbeit kommen und dabei helfen, Stahlteile an Traversen aufzuhängen. Die Industrie wäre deshalb auch Möglichmacher der Immigration, denn bei uns finden Leute noch Arbeit, auch ohne perfekt Deutsch sprechen zu können“, betonte er.
Die Rolle der politischen Korrektheit wurde ebenfalls diskutiert. Niederstein warnte davor, dass die political correctness schädlich sein könne, wenn sie an der Realität vorbeigehe. „Nur, wenn sie an der Realität vorbei geht. Und das tut sie momentan“, sagte er dazu.
In Bezug auf den Vergleich zwischen Unternehmern und Politikern betonte Niederstein, dass Unternehmer langfristig denken müssten und der Staat seinen Familienunternehmern nicht genug vertraue. „Unternehmer müssen zumindest langfristig denken, weil ihre Zukunft von ihren Entscheidungen abhängt. Und der Staat scheint seinen Familienunternehmern in diesem Punkt nicht zu vertrauen.“
Niederstein: Politik muss umdenken, damit Deutschland ein starker Industriestandort bleibt
Er räumte jedoch ein, dass Unternehmer nicht zwangsläufig Politiker sein müssten, um die Politik zu gestalten. „Für uns ist Verbandsarbeit oft schon Diplomatie genug“, fügte er hinzu.
Niederstein sprach auch über den Bedeutungsverlust der Industrie in Deutschland und betonte, dass große Projekte nicht mehr in dem Maße umgesetzt würden wie zuvor. Er kritisierte die EU dafür, mit voller Geschwindigkeit gegen die Wand zu fahren und forderte eine echte Standortpolitik.
Abschließend betonte Niederstein, dass Deutschland ein starker Industriestandort bleiben könne, wenn die Politik umdenke und nicht die gleichen Fehler wie andere Länder mache. Er warnte vor einem möglichen Erstarken der AfD, wenn die Industrie vernachlässigt werde, und betonte die Notwendigkeit eines klugen Handelns, um eine ausgewogene Zukunft für den Industriestandort Deutschland zu sichern. „Wenn mit Verstand gehandelt wird und wir nicht die Fehler machen, die zum Beispiel England in den 1980er-Jahren gemacht hat, wird sich auch in Deutschland irgendwann wieder eine Balance einstellen. Vielleicht braucht es bis dahin aber etwas Nachhilfe.“