Deutschland will keinen Krieg: Selenskyis Fehler

(Morning Briefing) – Die Interessenlagen sind nicht konträr, aber in wichtigen Nuancen doch sehr unterschiedlich: Der ukrainische Präsident wird dafür bezahlt, dass er sein Land vor dem russischen Aggressor rettet. Der deutsche Kanzler wird dafür bezahlt, dass die Deutschen wieder in Frieden ihrer Wohlstandsmehrung nachgehen können.

Es gibt in Deutschland eine große Hilfsbereitschaft, aber keine Kriegsbereitschaft. Wenn die Deutschen könnten, würden sie jetzt nicht SPD, CDU oder die Grünen wählen, sondern den Frieden. Den Umweg über die Lieferung von Kampfpanzern nehmen sie in Kauf, wenn auch knurrend. Olaf Scholz mit all seiner kommunikativen Verschlossenheit und spürbaren Widerwilligkeit, die er mühsam als Besonnenheit tarnt, ist der Notar deutscher Gefühle.

Selenskyj bringt den Kanzler in eine zunehmend schwierige Position. Der Kriegspräsident versucht, den deutschen Kanzler zu einem Soldaten der ukrainischen Befreiungsarmee im Donbass und auf der Krim zu machen. Das will der nicht sein. Und das darf er nicht sein wollen. Dafür fehlt ihm das Mandat.

Selenskyj macht fünf gravierende Fehler, die auch dann Fehler bleiben, wenn er sie für Heldentaten hält.

Fehler 1: Selenskyj will zu viel zu schnell. Kaum ist der Dank für die Panzer des Westens verklungen, fordert er die Lieferung von Langstreckenraketen, Kampfjets und U-Booten. In einem Telefonat mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und auch öffentlich hat er dieser Forderung Nachdruck verliehen, bevor die neuen Kampfpanzer an der Front überhaupt ihre Wirkung entfalten konnten.

Auch der ehemalige deutsche Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk, schlägt als neuer Vize-Außenminister bewusst harsche Töne an:

Das Team Selenskyj wirkt damit auf viele Deutsche ungeduldig, undankbar, auch unseriös. Womöglich hat der Mann in Kiew zu viele Churchill-Biografien gelesen.

Fehler 2: Selenskyj lehnt Friedensverhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt ab. Damit droht er, das Momentum zu verpassen.

Niemand – außer Kissinger – widerspricht ihm derzeit. Der Westen ist groß darin, das Momentum zu verpassen: Die unrühmlichen militärischen Niederlagen in Vietnam, im Irak und zuletzt in Kabul haben bei denen, die jetzt nach mehr Waffen und mehr Krieg rufen, keine Spuren im Selbstbewusstsein hinterlassen. Sie hoffen, die Ausgangslage für spätere Friedensgespräche durch mehr Militär zu verbessern. Aber der Heldenfriedhof ist voll mit den verstorbenen Hoffnungen von Kriegsherren, deren Ambition größer war als ihre realpolitische Möglichkeit.

Aus der Ukraine erreicht uns eine Kaskade von Durchhalteparolen, die kämpferisch klingt, aber die Interessen der Deutschen und die Gefühle der deutschen Wähler ignoriert. Etwa wenn der Berater des Präsidenten Mykhailo Podolyak an den Westen gerichtet sagt:

Fehler 3: Das inszenatorische Moment bei Selenskyj ist zu stark ausgeprägt. Dazu muss man wissen: Er war nicht nur Schauspieler, sondern gründete 2003 auch eine erfolgreiche Produktionsfirma, das Studio Kwartal 95. Freunde aus diesem Umfeld besetzen heute Schlüsselpositionen in der Regierung.

Der Leiter des Präsidialamts, Andrij Jermak, war einst selber Filmproduzent. Der Chefberater Serhij Schefir stammt ebenfalls aus Studio Kwartal 95, wie auch Geheimdienstchef Iwan Bakanow. Die NZZ-Auslandsredaktion fand heraus:

Fehler 4: Unter den Augen des Präsidenten blühen weiter Korruption und Vetternwirtschaft. Zwar hatte Selenskyj im Wahlkampf versprochen, diese Spätfolgen der Wendezeit zu bekämpfen. Aber er hat nicht geliefert. Der wichtigste Kronzeuge für das Scheitern dieser Säuberungsbemühungen ist Selenskyj selbst, der in den vergangenen Tagen neun Mitglieder des engsten Kreis der ukrainischen Führung wegen schwerer Korruption und dem Verdacht der Vetternwirtschaft entlassen hat.

Kyrylo Tymoschenko – stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung und enger Freund Selenskyjs aus der Filmbranche – nutzte ein für die Evakuierung von Zivilisten vorgesehenes Auto privat. Vize-Infrastrukturminister Wassyl Losynsky soll 400.000 US-Dollar Bestechungsgeld bei der Anschaffung von Generatoren angenommen haben. Das Verteidigungsministerium habe weit überteuerte Lebensmittel für Soldaten gekauft. Insgesamt mussten fünf Gouverneure, vier Vize-Minister und mehrere hochrangige Beamte gehen.

Selenskyj hat diese Herren nicht aus freien Stücken entlassen, er hat sie entlassen müssen. Diese Fälle wurden von den Medien aufgedeckt.

2021 belegte das Land, das nunmehr sein Land ist, den 122. Platz im Korruptionsindex und lag damit hinter Sambia, Nepal und den Philippinen. Der Europäische Rechnungshof urteilte Ende 2021:

Fehler 5: Selenskyjs Ambition reicht über die Befreiung der Ukraine hinaus. Er versucht, einen Kulturkampf gegen Russland anzuzetteln – gegen russische Sportler, russische Autoren, Musiker und Schauspieler. So verlangt sein Kulturminister, dass die Musik des vor 130 Jahren gestorbenen russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski im Westen nicht mehr gespielt werden dürfe. Derzeit versucht er, das IOC zu überreden, russische Sportler von den Olympischen Spielen 2024 in Frankreich auszuschließen.