Künstliche Intelligenz vs. digitalisierte Medizin

(DGE) – Der Blogbeitrag vom 20./21. August 2019 über „Künstliche Intelligenz (KI) vs. Natürliche Intelligenz“ von Klaus Ehrenberger wurde in meinem Umfeld vielfach diskutiert. Ich wurde gebeten, einige Punkte aus dem Beitrag, die nicht für alle sofort verständlich waren, näher erläutern zu lassen und darf hier zunächst die Antwort von Klaus Ehrenberger  wiedergeben, dann einem Kommentar von mir.

Antwort:

1. Energieverbrauch der Informationsverarbeitung
– Das Gehirn ist ein Energiefresser. Circa 2% der Körpermasse verbrauchen fast 20% der aufgewendeten Körperenergie.
– Im Vergleich dazu ist der Stromverbrauch für Betrieb und Kühlung aller elektronischen Rechner viel größer. Er ist sogar so riesig, dass er Einzug in die aktuelle Klima-Debatte gehalten hat.

2. Informationsverarbeitung des Gehirns
1965 publizierte Nelson Kiang (1) die überraschende Tatsache, dass identische akustische Reize in den zugehörigen Nervenfasern jeweils leicht unterschiedliche Signalfolgen auslösen. Vor 25 Jahren hat unser kleines neurophysiologisches Arbeitsteam nach eingehenden eigenen Untersuchungen versucht, die Sinnhaftigkeit dieser eigenartigen Kodierungsstrategie modellhaft darzustellen (2). (Im Supermarkt etwa ist der auf die Artikel aufgeklebte Barcode die „Kodierungsstrategie“). Immerhin wurde unser Modell bis heute nicht widerlegt. Ein paar Jahre später konnten wir darauf hinweisen, dass das Phänomen der stochastischen Resonanz (= Signalverstärkung durch “inneres Rauschen“), erstmals beschrieben bei Krebsen, auch bei Warmblütern zur Anwendung kommt: die Erregung des zentralnervösen Rauschens verstärkt schwache Signale zu überschwelligen Erregungen.

3. Digital – analoge Signal- und damit Informationsübersetzer
sind Bildschirme, Lautsprecher, I-phones, 3D Brillen, virtuelle Laserprojektionen und was es sonst noch alles gibt.

4. EDV-gesteuerte künstliche Intelligenz ist im Alltag sehr nützlich
und erledigt zahlreiche repetitive Aufgaben. Künstliche Intelligenz ist ein wertvolles Hilfsmittel für den Menschen, aber kein Ersatz für das menschliche Gehirn. Die Künstliche Intelligenz ist ein Arbeitsinstrument und keine reale Welt. Wenn jemand die digitale Welt als reale Welt ansieht, so ist das ein Irrtum, der gefährlich werden kann. Zu glauben, dass die digitale die analoge Welt unnötig machen wird, ist nicht zutreffend. Niemand braucht Angst zu haben, dass der Mensch mit seiner (natürlichen, analogen) Intelligenz in Zukunft unnötig sein wird.

5. Analoge Computer
Die zentralnervöse Informationsverarbeitung ist noch viel zu wenig verstanden, um elektronisch erfolgreich simuliert werden zu können.

Kommentar

Die „Digitalisierte Medizin“ und die „Künstliche Intelligenz“ sind seit Jahren auf unseren  Kongressen ein wichtiges Thema, so auch auf dem diesjährigen Internistenkongress  in Wiesbaden 2019. Gerd Hasenfuß, der Tagungspräsident des Deutschen Internistenkongresses 2016 schrieb in seiner Kongresseinladung (4): „Apple, Google und die sozialen Netzwerke haben den Gesundheitsmarkt entdeckt und werden weitreichenden Einfluss auf die Medizin nehmen. Wir Ärzte müssen die digitale Medizin mitgestalten, um das große Potenzial dieser Entwicklung aus fachlicher Sicht für den Patienten nutzbar zu machen und Schaden durch fehlendes medizinisches Sachwissen zu verhindern“.

Im Buch „App vom Arzt. Bessere Medizin durch digitale Medizin“ stellen Jens Spahn, Markus Müschenich und Jörg F. Debatin, die digitale Medizin aus der Sicht des Gesundheitsmarktes dar (5). Sie schlagen vor, dass ein Patient statt einen, wie sie es nennen, „offline Arzt“ in ihrer Region zu konsultieren,  sich besser einen hervorragenden Spezialisten für diese Erkrankung wenden sollten, der online ist,  etwa auch in Australien. Und „Dr. Watson“, der Großcomputer von IBM, würde auch bei Diagnose und Therapie helfen. Für die so wichtige Empathie freilich sei der Mensch besser geeignet als ein Computer. Da wird jeder Arzt zustimmen. Abschließend in ihrem Buch fragen sie aber, „ob dieser Mensch ein Arzt sein muss. Wer weiss, was Krankenschwestern,  Krankenpfleger,  Seelsorger heute bereits leisten, wird diesen sicherlich zutrauen, auch hier die Wünsche eines Patienten zu erfüllen“. Der Referent, der dieses Buch zu referieren bekam, beendete seine Rezension mit dem Satz: „Bleiben dann nur noch „Dr. Watson“, virtuelle Ärzte und für die Empathie Assistenzpersonen und Seelsorger ? Schöne Neue Welt !“ (6).

Der Großcomputer „Watson“ von IBM, der sich zum Beispiel in der Quizsendung  „Jeopardy!“  zwei menschlichen Gegnern als hoch überlegen erwiesen hatte, wird aber in letzter Zeit wegen falscher Therapievorschläge heftig kritisiert. So sei im Jahre 2018 ein onkologischer Patient unter einer von Watson vorgeschlagenen Therapie zu Tode gekommen. Bei der Behandlung von Tumorerkrankungen sei er bisher keine echte Hilfe (7). Im medizinischen online-Dienst „Stat“ sei im Juli 2018 zu lesen gewesen, dass Watson ungesunde und falsche Therapieempfehlungen für Krebspatienten gegeben habe. Nach anfänglich großen Erwartungen ist die Enttäuschung im medizinischen Bereich umso größer (8). Die KI-Software biete keinen Mehrwert gegenüber Diagnosen von Krebsspezialisten. Viele onkologischen Programme an großen Institutionen wurden inzwischen eingestellt. Auch in der Klinikverwaltung mit Digitalisierung von Patientenakten und Arztbriefen wurde die Zusammenarbeit mit Watson vom Universitätsklinikum Gießen und Marburg wieder beendet, da sich das System als auch im Betrieb sehr teuer und „deutlich weniger intelligent als erhofft“ erwiesen habe (7). Hier erinnert sich der Referent an seine Assistentenzeit in den 1960er Jahren an der II. Medizinischen Universitätsklinik Wien, als der Klinikvorstand Professor Karl Fellinger seine Klinik – vor einem halben Jahrhundert! –  „digitalisieren“ wollte, und einen Großrechner, ich meine es war ein IBM 604 anschaffte, für den ein gekühltes kleines Haus gebaut wurde. Bei den Visiten hatten die Schwestern die Therapieangaben auf Lochkarten zu übertragen. Nach Auswertung über große Datentrommeln kamen die Anweisungen für die diagnostischen Maßnahmen und die Medikationspläne ausgedruckt zurück auf die Stationen. Dieses Verfahren wurde bald, nach etwa einem halben Jahr wieder eingestellt, da es mehr Arbeit machte als das herkömmliche Verfahren  und keineswegs fehlerfrei war.

Eine gewisse Analogie einer „KI-Medizin“ mag man in den selbstfahrenden Autos sehen, obwohl hier die Probleme vergleichweise wohl einfacher sind als auf dem weiten, oft sehr komplexen Feld der Medizin, insbesondere der personalisierten, der „precision medicine“. Gerade in der Präzisionsmedizin war „Dr. Watson“ trotz Versuchen kaum weitergekommen.

Es ist aber zu hoffen, dass die Entwicklung in der Digitalisierten Medizin fortschreitet und immer bessere Ergebnisse liefert. Wir Ärzte werden uns in heute kaum vorstellbaren Maße mit ihr auseinanderzusetzen haben. Der Mensch mit seiner natürlichen, analogen  Intelligenz aber wird gewiß nicht durch die künstliche, digitale Intelligenz völlig zu ersetzen sein.

Klaus Ehrenberger, Helmut Schatz