Dies könnte auch eine wissenschaftliche Büttenrede sein. Jean Pütz wurde mit seiner WDR-„Hobbythek“ (1974 bis 2004) und seinem rauschigen Schnauzer ein bundesweit prominentes Gesicht. Hier entwirft der Wissenschaftsjournalist und Influencer humorig eine Geschichte der Menschheit, die in der Abschaffung der Schwerkraft gipfelt – eine postfaktische Sottise, allerdings sehr ernst.
Es war einmal eine Zeit, als es noch keine Wissenschaft gab und die Menschen zur Erklärung des Alltags die Religion brauchten. Wenn eine Seuche wie Pest oder Cholera auftrat, wurde ein böser Geist, der wie Brueghel es in seinem Gemälde dargestellt hat, erfunden, der von Haus zu Haus, von Fenster zu Fenster sein Unwesen verrichtete. Meist fand man für das Übel einen Sündenbock, der auch mal als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Leute, die es sich leisten konnten, kauften sich frei von ihren Sünden, in dem sie der Kirche Geld oder Güter vermachten. Manchmal war es aber auch die Mutter Gottes, die herhalten musste. Bildnisse wurden reich mit Schmuck oder Spenden bedacht, die letztlich ebenfalls im Kirchensäckel landeten. So weit, so schlecht. Dann kam die Aufklärung und Philosophen bereiteten das Zeitalter der Naturforscher vor. Zunächst ganz langsam, dann immer schneller entwickelten sich die Wissenschaften. Davon profitierte auch die Technik. Es war James Watt, dem wir es verdanken, dass die Sklaverei nach langem Aufbäumen dagegen endlich geächtet wurde. Posthum verleihe ich ihm nicht nur den Nobelpreis für Physik, sondern auch den Friedensnobelpreis. Plötzlich wurde Sklavenarbeit erheblich teurer als Maschinenarbeit, und die feudale Herrschaft entschied sich aus ökonomischen Gründen für die Menschlichkeit. Die Moralphilosophen spielten dabei nur eine geringe Rolle. Der Technik sei Dank. Der Erfindungsreichtum der Wissenschaftler und Techniker fand keine Grenzen mehr, so aber auch die Fähigkeit, alles wieder zu zerstören: Dem Kolonialismus und dem Nationalismus, dem Faschismus und Kommunismus fielen Abermillionen zum Opfer.
Die Gefühle blieben in der Steinzeit stecken
Mich persönlich prägten die Jahre des Nationalsozialismus mit seinen furchtbaren Folgen. Aber danach, 70 Jahre lang Demokratie und Frieden bescherten mir und meinen Zeitgenossen eine Glückssträhne sondergleichen. Die Wissenschaft war hoch angesehen und erreichte auch den normalen Bürger. Die Technik erleichterte immer mehr das Leben und die Bildung sorgte dafür, dass viele das auch würdigen konnten. Doch früh deutete sich an, dass diese explosionsartige Vermehrung des Wissens aufgrund der zunehmenden Kompliziertheit nicht mehr jeden erreichen konnte. In dieser Hochzeit des Wissens entstanden die Akademiker als eine Art Parallelgesellschaft, die Bildung als Statussymbol vor sich hertrugen. Die Welt wurde immer komplexer und viele Menschen, obwohl sie die Errungenschaften nutzten, wurden abgehängt. Der Staat versuchte zwar gegenzulenken, aber die sozialen Unterschiede konnte er durch Bildung nicht beheben. Aber dann gab es doch noch ein Phänomen der Vermischung. Der Wohlstand der Massen nahm immer mehr zu und erschuf eine neue Kategorie, die ich als „Gutmenschen“ bezeichnen möchte, die sich von ihren Gefühlen leiten ließen. Da ging es nicht mehr um das wissenschaftliche Prinzip Ursache und Wirkung, sondern der Bauch übernahm die Herrschaft über das Hirn. Das mit den Gefühlen hat so eine eigenartige Bewandtnis. Diese waren nämlich seit der Steinzeit nicht der Evolution unterworfen. Damals, als die Menschheit mit dem Homo sapiens in Afrika entstand, brauchte man nicht für die Zukunft vorzusorgen, die Natur stellte ja in den Tropen über das ganze Jahr alles zum Leben zur Verfügung, was man brauchte, unabhängig von den Jahreszeiten. Es lebte sich gut. Es sei denn, der böse Nachbar wollte einem den Kopf einschlagen. So entstand das Gefühl der Zusammengehörigkeit des eigenen Clans, aber gleichzeitig auch die Fremdenfeindlichkeit. In der Hinsicht war sie überlebenswichtig und hat sich tief in unser Bewusstsein eingefressen. Weil vieles nicht erklärt werden konnte, entstanden auch die unterschiedlichen Religionen, die auf den Urgefühlen aufbauten, in manchen Religionen gelten sie sogar als Gottesbeweis. Sie und die kleinkarierte Wehrhaftigkeit ist so tief in uns verankert, dass heute ganze Völker durch Autokraten und Parteien, die auf diese primitiven Gefühle zielen, verführt werden können, wie einst durch den Rattenfänger von Hameln. Damit begann das Zeitalter des Postfaktischen. Auch hier spielte die ursprünglich den Menschen befreiende Technik eine wichtige Rolle. Noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte konnte der Einzelne so viele individuelle Nachrichten beziehen. Man sollte meinen, das würde die Demokratie stärken, aber Pustekuchen. Da spielt wiederum ein steinzeitlicher Urinstinkt eine Rolle, den ich selektive Wahrnehmung nennen möchte. Der Einzelne holt sich nur die Informationen aus der Fülle des Nachrichtenchaos heraus, die zufällig zu seinem Weltbild beziehungsweise steinzeitgelenkten Vorurteilen passen.
Gebt der Vernunft eine Chance
Sie mögen noch so der Erfahrung eines Menschen widersprechen. Doch das Internet gibt ihm über die Methode der Fake News die Bestätigung, mittlerweile sogar durch algorithmisch gesteuerte Automaten. Nur so lässt sich erklären, dass in dem Land, in dem die Wissenschaft höchstes Ansehen erfahren hat, ein Präsident die Wahlen gewann, der ihre Erkenntnisse völlig negiert, wenn sie ihm nicht in den politischen Kram passen. Der verbreitet ungeniert, um seine Macht zu festigen, diese Fake News und findet in seiner so gesteuerten Anhängergruppe unbeirrbare Resonanz. Aber nicht nur in den USA, sondern in der ganzen Welt finden solche Prozesse statt. So gelang es Potentaten in Venezuela oder in der Türkei, das Volk glauben zu machen, dass sie Natur- und Sozial-Gesetze und sämtliche Erkenntnisse der modernen Forschung gänzlich ignorieren konnten, um damit genügend Anhänger zu rekrutieren, die diese Diktatur der Dummheit auch noch blindlings unterstützen. Auch in Deutschland müssen wir aufpassen, dass das nicht Raum greift, denn sowohl die extreme Rechte als auch die Linke versuchen die Bürger zu verführen mit Versprechen, die der Realität und Wissenschaft nie standhalten können. Sie tun so, als könnten sie die Sterne vom Himmel holen. Nun stellen Sie sich einmal vor, einem aus der rechten oder linken deutschen politischen Szene fällt ein, dass die Schwerkraft unsozial wäre, denn Menschen mit höherem Gewicht und daher stärkerer Anziehung seien benachteiligt. Dieser Agitator würde dann auch noch die Mittel der Massenbeeinflussung beherrschen, wie es einigen Politikern zugeschrieben werden könnte. Slogans wie „Ausländer raus“ oder „Nie wieder Deutschland“ würden zu einer lawinenartigen Massenbewegung führen und die Schwerkraft als Ursache des Übels identifiziert. Um das demokratisch zu untermauern, würde eine Volksbefragung initiiert mit dem Ziel: „Wir schaffen die Anziehungskraft ab!“ Bezirzt davon bekämen viele Bürger Scheuklappen und es entschieden sich 51 Prozent dafür, sie tatsächlich abzuschaffen. Dann würde der Entscheid dem Parlament übergeben mit dem Auftrag, ihn zu vollziehen, ohne auf Nebenwirkungen und Risiken zu achten. Sie meinen, so etwas wäre nicht möglich? Dann schauen Sie einmal, wie das mit dem Brexit gelaufen ist oder mit Trump und Erdogan oder mit … Erlösung aus unserem postfaktischen Zeitalter verspricht nur eines: Der Vernunft wieder eine Chance zu geben. Demokratisch auf die Schwarmintelligenz zu setzen, reicht offenbar nicht aus. Dafür engagiere ich mich mit einer offiziellen Seite bei Facebook und mit meiner täglich aktualisierten Homepage. Highlight: „Wissenschaft soeben eingetroffen“. Das erspart mir den Psychiater im Alter