Bei Menschen,
die an Nervenverletzungen oder Erkrankungen wie der
diabetischen Neuropathie leiden, kann die leichteste Berührung heftigen
Schmerz auslösen. Ein Forschungsteam am Max-Delbrück-Centrum für
Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) hat nun einen Weg
gefunden, wie sich bei Mäusen durch Auftragen eines neu gefundenen
chemischen Wirkstoffs auf die Haut der Schmerz unterdrücken lässt. Die
Substanz hemmt einen Ionenkanal im Nervensystem, der verantwortlich ist
für die Wahrnehmung leichten mechanischen Drucks. Eine Aktivierung
dieses Kanals führt auch zu Schmerzen nach Verletzungen – die
neue Substanz lässt diese Art von Schmerz verschwinden. Die Methode
könnte auch beim Menschen funktionieren.
Die Injektion eines Anästhetikums, wie beim Zahnarzt, betäubt
das umliegende Gewebe. Oft ist dies der einzige Behandlungsansatz für
Menschen, die an einer schmerzhaften Überempfindlichkeit leiden, wie sie
häufig bei Nervenschädigungen auftritt. Anästhetika, die alle
Funktionen mechanorezeptiver Nervenendigungen blockieren, unterdrücken
zwar die Schmerzen – sie verhindern aber auch, dass andere, wichtige
Signale weitergeleitet werden.
Nur den Schmerz durch mechanische Reize unterdrücken
Gary Lewin und Cécile-Vogt-Stipendiatin Dr. Kate Poole vom
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der
Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und der Screening-Plattform EU OPENSCREEN,
die vom MDC und dem Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP)
gemeinsam betrieben wird, hat soeben eine Substanz ausfindig gemacht,
die Schmerz durch mechanische Reize unterdrückt, ohne andere, wichtige
Sinneswahrnehmungen zu stören.
Sehr leichte
Berührungen werden von molekularer Sensoren in der Haut wahrgenommen,
einem Ionenkanal namens „Piezo2“. Diese Kanäle verhalten sich wie
winzige Ventile in der Membran von Nervenzellen, die sich bei
Beanspruchung durch Bewegungen der Haut öffnen. Im geöffneten Zustand
passieren elektrisch geladene Teilchen das Ventil und es entsteht ein
elektrisches Signal, das dann durch die Zelle verstärkt und an das
Rückenmark weitergeleitet wird. Das Protein Stoml3 moduliert die
mechanische Empfindlichkeit des Ionenkanals Piezo2.
Neue Substanz wirkt auf Stoml3 und unterdrückt so mechanische Reizwahrnehmung
Wirkstoff-Screening, bei dem 35.000 verschiedene chemische Stoffe in
groß angelegten In-Vitro-Experimenten getestet wurden. Sie fanden eine
Substanz namens OB-1. OB-1 verhindert, dass sich mehrere Stoml3-Proteine
zusammenlagern und hemmt damit die Funktion des Proteins. Folgende
elektrochemische Messungen an Zellen bestätigten: wenn das geschieht,
bleibt der Ionenkanal Piezo2 geschlossen.
Bei
Mäusen hemmte die Chemikalie hemmte wirksam diese Art der mechanischen
Wahrnehmung, andere Empfindungen blieben unbeeinträchtigt. Unter dem
Einfluss von OB-1 ließ die Empfindlichkeit der Tiere auf leichten
Druck deutlich nach. Nach Abklingen der Wirkung des Wirkstoffs kehrte
die normale Empfindlichkeit wieder zurück.
„Wir haben eine Reihe von Verhaltensexperimenten entwickelt, bei denen
die Mäuse mit uns „sprechen“ konnten“, erklärt Prof. Lewin. „Es
wurde jeweils eine kleine Menge der Substanz auf die Pfote aufgetragen.
Dann wurde die Pfote sanft angetippt. Die Mäuse hatten zuvor gelernt,
nach einer Belohnung zu greifen, wenn sie etwas spürten.“
OB-1 hatte einen dramatischen Effekt auf Tiere
mit berührungsempfindlichen Schmerzen, die durch Nervenschädigung oder
Diabetes verursacht wurden. Wurde die Haut mit der Substanz behandelt,
eliminierte das diese Art von Schmerz vollständig. Dies ist ein Hinweis
darauf, dass Stoml3 in der Tat den Piezo2-Kanal moduliert. Die Funktion
von Piezo2 so zu dämpfen wäre als eine Möglichkeit, die
Krankheitssymptome zu behandeln.
Ein großer Schritt zur Behandlung neuropathischer Schmerzen?
„Die Ergebnisse sind aus vielen
Gründen ermutigend“, meint er weiter. „Wir haben damit eine neue
Strategie geschaffen, und zwar aus dem Verständnis der Mechanismen, die
Berührungsempfindungen in Schmerzen umwandeln. Soweit wir bisher sagen
können, beeinflusst die Substanz nur eine ganz spezielle Art von
Mechanorezeptoren, die sowohl mit Stoml3-Proteinen als auch mit
Piezo2-Kanälen ausgestattet sind. Sie dämpft die Wahrnehmung von
Schmerzreizen so, dass andere, für das Tier wichtige Signale nicht
beeinträchtigt werden. Und die Wirkung ist reversibel.”
Die Weiterentwicklung des Wirkstoffs zur medizinischen Behandlung wird
lange dauern, sagt Lewin, aber irgendwann wird er bereit sein für
Studien an menschlichen Probanden. Wenn diese ebenso positiv reagieren,
wäre das ein großer Schritt zur Behandlung einer
Nervenerkrankung, welche die Lebensqualität vieler Menschen derzeit sehr
stark einschränkt.
Christiane Wetzel et al. (2016): „Small-molecule inhibition of STOML3 oligomerization reverses pathological mechanical hypersensitivity.“ Nature Neuroscience. doi:10.1038/nn.4454