Leipzig – Krebserkrankungen breiten sich nur dann aus und bilden Tochtergeschwulste, wenn das umgebende Gewebe dies zulässt und durch Stütz- und Versorgungsstrukturen das Tumorwachstum ermöglicht. Dabei verdrängen die entarteten die gesunden Zellen. Damit eine Krebszelle sich gegenüber den anderen Zellen durchsetzen kann, sind Veränderungen in ihrem Zellskelett notwendig. Forscher an der Universität Leipzig zeigen jetzt, dass die physikalischen Eigenschaften der Krebszellen maßgeblich beeinflussen, wie sich der Tumor ausbreitet und Tochterzellen absiedelt. Aus diesen Erkenntnissen ziehen die Experten der Medizinischen Fakultät auch Ansätze für zukünftige Therapien.
In den Industrieländern macht Gebärmutterhalskrebs bis zu einem Drittel aller gynäkologischen Krebserkrankungen aus, in Entwicklungsländern noch weit mehr. In Deutschland erkrankten im Jahr 2006 etwa 6 500 Frauen an diesem bösartigen Tumor, 1 700 starben daran. Gebärmutterhalskrebs wurde bislang nach der Wertheim-Methode radikal operiert, bei der der Operateur möglichst umfassend erkranktes und angrenzendes Gewebe entfernte. „Die Resektion des Tumors zusammen mit einem Kokon gesunden Gewebes war das Dogma der Krebschirurgie, denn es galt als erwiesen, dass sich der Tumor in alle Richtungen ausbreitet und sich dabei nicht von Gewebegrenzen zurückhalten lässt“, sagt Professor Dr. rer. nat. Dr. med. Michael Höckel, Direktor der Universitätsfrauenklinik Leipzig. Nach der Wertheim-Operation bekamen etwa die Hälfte der Patientinnen zusätzlich eine Bestrahlung.
Höckels Arbeitsgruppe am Universitätsklinikum Leipzig fand jedoch heraus, dass Tumoren über lange Phasen ihres Wachstums auf ein embryologisch festgelegtes Gewebekompartiment beschränkt bleiben: Gebärmutterhalskrebs etwa breitet sich in einer Gewebeeinheit von Gebärmutter, Scheide und komplex geformtem Füllgewebe aus. Mit einem neuen Operationsverfahren entfernen die Ärzte deshalb ausschließlich dieses Gewebekompartiment. Auf eine Bestrahlung verzichten sie. Die Forscher der Medizinischen Fakultät Leipzig konnten zeigen, dass weniger mehr ist: Ihre TMMR-Operation (Totale mesometriale Resektion) senkt die Rate von Rückfällen deutlich, erhöht die Heilungsrate auf 96 Prozent und ist zugleich schonender für die Patientin.
Inzwischen erforschen die Gynäkologen die biophysikalischen Bedingungen für die Tumorausbreitung zusammen mit dem Physiker Professor Dr. rer. nat. Josef A. Käs, Leiter des Instituts für Experimentelle Physik I der Universität Leipzig. Dabei zeigt sich, dass Krebszellen ein schwächeres äußeres Zellskelett als andere Zellen haben. Auch diese Eigenschaft machen sich Ärzte bereits diagnostisch zunutze: Privatdozent Dr. med. Thorsten Remmerbach von der Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Leipzig entwickelte daraus einen Test zur Früherkennung von Tumoren des Mund-Rachen-Raums. Mit einem einfachen Abstrich der Mundschleimhaut lassen sich Krebszellen erkennen, weil sie “weicher” sind als gesunde Zellen.
In seiner aktuellen Veröffentlichung in der Zeitschrift nature physics zeigt Professor Käs nun, dass die Theorie von der Ausbreitung der Krebszellen in Kompartimenten auch mit Mitteln der Grundlagenforschung belegbar ist. Intensiv erforscht Käs derzeit die Fähigkeiten des Tumors, in das umgebende Gewebe vorzudringen und es für sein Wachstum zu nutzen. Dehnte der Krebs sich wie ein Ballon aus, würde er allein aus physikalischen Gründen vom umgebenden Gewebe erdrückt. In Krebszellen sind deshalb Elemente des Zellskeletts betont, die es erlauben, dass sich der Tumor verhärtet und gegen den äußeren Druck anwachsen kann. Für Professor Käs bieten diese veränderten Bausteine des so genannten Zytoskeletts einen Ansatz für zukünftige Krebstherapien.
Darüber hinaus interessiert die Forscher der Universität Leipzig die Fähigkeit von Krebszellen, den Tumor zu verlassen: Sie zwängen sich aktiv durch das umgebende Gewebe, dringen in ein Blutgefäß ein und bilden an entfernten Orten Metastasen. Auch hier helfen Veränderungen im Zytoskelett den Zellen, ihren Weg zu finden und im Zielgewebe Fuß zu fassen. Aus der weiteren Erforschung dieser Vorgänge könnten sich entscheidende Fortschritte in der Behandlung von Krebserkrankungen ergeben, hoffen die Wissenschaftler. Denn die meisten Todesfälle bei Krebserkrankungen sind Folge der Metastasen-Bildung.