„Narben“ im Gehirn:
Warum traumatisierte Kinder im Erwachsenenalter häufiger krank werden
Berlin
– Wer im Kindesalter traumatische Erfahrung macht, ist als Erwachsener
anfälliger für psychische Krankheiten, aber auch für
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gastrointestinale Störungen, Diabetes und
Krebs. Frühe Stresssituationen können Effekte auf das Gehirn, den
Stoffwechsel und das Immunsystem haben, die diese Erkrankungen
begünstigen. Auf der Jahres-Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft
für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) am
Donnerstag, den 15. März 2018 in Berlin gibt Professor Dr. rer. nat.
Christine Heim, Direktorin des Instituts für Medizinische Psychologie an
der Charité in Berlin, Einblicke in die Auswirkungen kindlicher
Traumatisierung und liefert damit neue Ansatzpunkte für gezielte
Interventionen.
In
einer deutschlandweiten Umfrage gaben 27,7 Prozent der befragten
Erwachsenen an, mindestens eine Form der Misshandlung in ihrer Kindheit
erfahren zu haben. „Zahlreiche Studien belegen, dass belastende
Erfahrungen im Kindesalter das Risiko für psychische und körperliche
Erkrankungen im Erwachsenenalter erhöhen“, so Professor Dr. med. Agnes
Flöel, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie,
Universitätsmedizin Greifswald und Präsidentin der DGKN. „Die Frage ist,
wie die frühen Belastungen strukturelle und funktionelle Veränderungen
in Gehirn und Körper hervorrufen und was wir dagegen tun können.“
Wie
traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit die Gehirnentwicklung
verändern, zeigt Professor Christine Heim an der Charité Berlin zusammen
mit ihrer Arbeitsgruppe mittels Bildgebung: „Gerade die Gehirnareale,
die für die Stressregulation zuständig sind, sind bei den Probanden
verkleinert.“ Weitere Untersuchungen zeigen außerdem, dass Erwachsene,
die von belastenden Erfahrungen wie körperliche oder psychische
Misshandlungen in der Kindheit berichten, chronisch erhöhte
Entzündungswerte aufweisen. „Das Immunsystem ist quasi dauerhaft im
Einsatz, und damit schreitet auch die Zellalterung schneller voran“,
erklärt Heim.
Psychische
und körperliche Erkrankungen im Erwachsenenalter werden häufig durch
akute oder chronische Belastungen ausgelöst – bei Erwachsenen, die in
der Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht haben, scheint die
Stresstoleranz herabgesetzt. „Diese Menschen reagieren sensibler auf
Stress, weil ihr Stressreaktionssystem möglicherweise sensibilisiert
ist“, so Heim.
Selbst
Stresssituationen in der Schwangerschaft wirken sich langfristig
negativ auf die Entwicklung des Kindes aus: War die Mutter während der
Schwangerschaft großen Belastungen ausgesetzt, können Kinder
Beeinträchtigungen in metabolischen, endokrinen, immunologischen und
kognitiven Funktionen und Abweichungen in der Gehirnentwicklung zeigen.
Neben der pränatalen Entwicklung gelten gerade die ersten Jahre im Leben
eines Kindes als besonders sensibles Fenster für die langfristigen
Folgen äußerer Einflüsse.
Der
Grundstein für Gesundheit versus Krankheit wird also bereits sehr früh
im Leben gelegt: traumatische Erfahrungen im Kindesalter hinterlassen
neurobiologische Spuren, die die Betroffenen ihr ganzes Leben lang
anfällig für Erkrankungen machen können. Dieser Effekt kann sogar an die
nächste Generation weitergegeben werden.
„Durch
neue Diagnostik- und Therapieansätze kann dieser Kreislauf durchbrochen
werden“, ist Professor Heim überzeugt. Betroffene mit einem erhöhten
Krankheitsrisiko müssen früh erkannt und individuell behandelt werden.
Durch die Entschlüsselung der neurobiologischen Prozesse können
Medikamente entwickelt werden, die – kombiniert mit Psychotherapie –
gezielt ansetzen. Auch Hirnstimulation könnte gegebenenfalls zukünftig
eingesetzt werden, um die schädlichen Veränderungen in den betroffenen
Hirnstrukturen umzukehren. „Prävention und Intervention müssen
frühestmöglich greifen, um die lebenslangen Auswirkungen für die
Betroffenen minimieren zu können“, resümiert Professor Heim.