Ursache der „Weizensensitivität“ ist nicht das Gluten – „glutenfrei“ hilft trotzdem
Berlin
– Treten nach dem Genuss getreidehaltiger Speisen Bauchschmerzen und
andere Beschwerden auf, deutet das nicht immer auf eine Zöliakie oder
auf eine Allergie gegen Weizenbestandteile hin. Die Deutsche
Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und
Stoffwechselkrankheiten (DGVS) weist auf eine dritte, weniger bekannte
Störung hin, die dazu führen kann, dass Betroffene keine
Getreideprodukte vertragen. Bessern sich unklare Beschwerden unter
glutenfreier Diät, sei die Weizensensitivität als mögliche Erklärung in
Betracht zu ziehen, so die Experten der Fachgesellschaft.
Wahrscheinliche Ursache der Erkrankung sind Eiweißstoffe, die wie Gluten
in Weizen, Gerste und Roggen vorkommen. Für über 90 Prozent der
Bevölkerung sei der Verzehr von Weizen jedoch unschädlich, betont die
DGVS.
„Amylase-Trypsin-Inhibitoren,
kurz ATIs, sind natürliche Eiweiße in Getreide, die bestimme Zellen des
angeborenen Immunsystems aktivieren“, erklärt Professor Dr. med. Dr.
rer. nat. Detlef Schuppan, Leiter des Instituts für Translationale
Immunologie und der Ambulanz für Zöliakie und Dünndarmerkrankungen am
Universitätsklinikum Mainz. Bei Menschen, die an einer
Weizensensitivität leiden, führen die freigesetzten Entzündungsstoffe
mitunter zu Bauchschmerzen oder Durchfällen.
Wie
Schuppan und Kollegen in einer aktuellen Sonderausgabe des Fachmagazins
„Gastroenterology“ zur Rolle der Ernährung bei immunologischen
gastrointestinalen Erkrankungen erläutern, treten insbesondere auch
Beschwerden außerhalb des Magen-Darm-Traktes auf. So können zum Beispiel
Kopfschmerzen, Migräne, chronische Müdigkeit, Muskel- und
Gelenkschmerzen auf den Verzehr glutenhaltiger Nahrungsmittel
zurückgehen. Besonders schwer könnte die Weizensensitivität Menschen mit
bereits bestehenden chronischen Entzündungen oder Autoimmunerkrankungen
betreffen. „In tierexperimentellen Studien verstärken ATIs durch die
Aktivierung angeborener Immunzellen bestehende Entzündungs- und
Autoimmunreaktionen“, erläutert Schuppan, der in Mainz und an der
US-amerikanischen Harvard-Universität die Rolle der ATIs bei der
Weizensensitivität untersucht. Es gebe hier deutliche Hinweise darauf,
dass sich Symptome von Krankheiten wie Multiple Sklerose oder einer
chronisch entzündlichen Darmerkrankung durch diese Weizenproteine
verstärken.
Menschen,
die vermuten, dass sie Weizen, Roggen oder Gerste nicht vertragen,
sollten sich einer gründlichen Diagnostik unterziehen, empfiehlt die
DGVS. Derzeit erfolgt die Diagnose der Weizensensitivität nach dem
Ausschlussprinzip: Können Ärzte eine Zöliakie, eine Weizenallergie und
bestimmte andere Erkrankungen als Ursache der Beschwerden ausschließen,
ist eine Weizensensitivität wahrscheinlich. Allen drei Patientengruppen
gemein ist, dass sie von einer glutenfreien Diät profitieren. Denn wer
an einer Weizensensitivität leidet, vermeidet mit dem Verzicht auf
Gluten gleichzeitig auch die problematischen ATIs. „Anders als bei
Zöliakie ist bei einer Weizensensitivität eine strikte Diät nicht
nötig“, erläutert Schuppan. Damit die Symptome verschwinden, reiche
wahrscheinlich eine Reduktion gluten- und damit ATI-haltiger
Lebensmittel um etwa 90 Prozent.
ATIs
dienen der Pflanze unter anderem zum Schutz vor Schädlingen. Einige
ältere Getreide wie zum Beispiel Dinkel, aber auch einige moderne Sorten
können um etwa 50 Prozent weniger ATIs enthalten als andere moderne
Sorten. Inwieweit verschiedene Weizensorten, unter anderem unter
unterschiedlichen Anbau- und Verarbeitungsbedingungen, ATIs enthalten,
ist derzeit Gegenstand eines interdisziplinären Forschungsprojektes.
Für
den Großteil der Bevölkerung sei eine weizenfreie Ernährung weder
besonders gesund noch schädlich, ist Schuppan überzeugt. Unabhängig von
dem Trend zur glutenfreien Ernährung sollten Ärzte jene Patienten, die
nach dem Verzehr von Weizen echte Krankheitssymptome entwickeln, ernst
nehmen und sie bei der Ursachenforschung unterstützen. Der Experte ist
zuversichtlich, dass die Diagnose der Weizensensitivität künftig
einfacher wird. „Wir hoffen auf einen Serumtest, der gerade in der
Entwicklung ist“, berichtet Schuppan, der gemeinsam mit seinem Kollegen
Professor Dr. med. Andreas Stallmach aus Jena die 2014 erschienene
DGVS-Leitlinie „Zöliakie, Weizenallergie und Weizensensitivität“
koordiniert hat.