Tradition neurologischer Forschung in Skandinavien

Vom kopflosen Wikinger bis zum Nobelpreis: Tradition neurologischer Forschung in Skandinavien

Skandinavische Länder blicken auf 5.000 Jahre Tradition neurologischer Forschung zurück

Kopenhagen (pts007/29.05.2016/12:40) –

Ist das Bewusstsein sofort weg, wenn einem der Kopf abgeschlagen wird
oder erst ein wenig später? Diese Frage beschäftigte die Joms-Wikinger
so sehr, dass sie dazu sogar ein neurophysiologisches "Experiment"
durchführten: Einer altnordischen Saga zufolge bat ein Krieger seinen
Henker darum, während der Enthauptung ein Messer in der ausgestreckten
Hand halten zu dürfen. Dem Todeskandidaten wurde der Wunsch gewährt. Er
wurde geköpft und das Messer fiel sogleich zu Boden.

"Die Erforschung des Nervensystems und seiner
Erkrankungen hat im Norden Europas eine lange und sehr erfolgreiche
Tradition", sagte Prof. Ragnar Stien, norwegischer Neurologe und Autor,
beim 2. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Kopenhagen.
Prof. Stien gab beim EAN-Kongress einen Überblick über die Geschichte
der Neurologie im skandinavischen Kulturkreis – von den
vorgeschichtlichen Belegen bis zur nobelpreisgekrönten Forschung der
Gegenwart.

Schädelöffnungen vor 5.000 Jahren

"Prähistorische Funde belegen, dass in Skandinavien
schon vor 5.000 Jahren Schädel trepaniert, also zur Behandlung von
Erkrankungen des Gehirns oder zu kultischen Zwecken geöffnet wurden",
sagte Prof. Stien. Untersuchungen von Skeletten aus Wikinger-Gräbern
zeigen, dass den Menschen des europäischen Nordens bestimmte
neurologische Krankheiten bereits bewusst waren und sie diese auch zu
heilen versuchten. Auch zahlreiche Sagas erwähnen Erkrankungen des
Nervensystems und deren Behandlung.

Dänische Pioniere entdecken Geruchsnerv und Lymphsystem

In der frühen Neuzeit schrieb die berühmte dänische
Gelehrtenfamilie Bertelsen Bartholin neurologische Geschichte: Caspar
Berthelsen Bartholin (1585-1629) verfasste eines der damals meist
gelesenen Handbücher der Anatomie und war der Erste, der den Geruchsnerv
beschrieb. Sein Sohn Thomas Bartholin (1616-1680) galt als einer der
wichtigsten Anatomen seiner Zeit und entdeckte das Lymphsystem als
eigenständiges Organsystem. Einer seiner Schüler, der dänische Arzt,
Anatom und Naturforscher Nicolaus Stensen oder Nicolaus Steno
(1638-1686) verfasste 1665 in Paris einen "Diskurs über die Anatomie des
Gehirns" und regte damit neue Untersuchungen an.

"Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die moderne
Neurologie in den skandinavischen Ländern aus unterschiedlichen
medizinischen Fachrichtungen", schilderte Prof. Stien. In Schweden war
die Innere Medizin der Ausgangspunkt, in Norwegen die Elektrotherapie,
in Finnland die Pathologie und in Dänemark die Psychiatrie. Akademische
Lehrstühle für klinische Neurologie wurden 1887 in Schweden, 1893 in
Norwegen, 1918 in Finnland, 1934 in Dänemark und 1974 in Island
eingerichtet.

Berühmte Namensgeber für neurologische Krankheiten

Skandinavische Neurologen, Neurophysiologen und
Biochemiker beschrieben als Erste heute wohlbekannte neurologische
Erkrankungen und dienten als deren Namensgeber: Folling’s disease nach
dem Norweger Ivar Asbjørn Følling (1888-1973);
Wohlfart-Kugelberg-Welander Syndrom nach den schwedischen Forschern Erik
Klas Hendrik Kugelberg (1913-1983), Gunnar Wohlfart (1910-1961) und
Lisa Welander (1909-2001); das Refsum-Syndrom nach dem norwegischen
Neurologen Sigvald Refsum (1907-1991); Morbus Krabbe nach dem Dänen Knud
Haraldsen Krabbe (1885-1961).

In den letzten hundert Jahren gab es bedeutende
Beiträge Skandinaviens zur Neurowissenschaft. Dänemark konzentrierte
seine Forschung auf den Gehirnkreislauf und Multiple Sklerose, in
Finnland standen Neurogenetik und Neuropathologie im Mittelpunkt, in
Island Neurogenetik und die "Slow-Virus-Infektion", in Norwegen
Neuroanatomie sowie Neurophysiologie und in Schweden Neuropharmakologie
und Bewegungsstörungen.

Skandinavische Nobelpreisträger

Der hohe Standard, den die Neurowissenschaft in den
skandinavischen Ländern erreicht hat, schlug sich in die Verleihung
mehrerer Medizin-Nobelpreise nieder: 1967 erhielt ihn der
finnisch-schwedische Forscher Ragnar Granit (1900-1991) für die
Untersuchung der physiologischen und chemischen Sehvorgänge im Auge.
2000 wurde der schwedische Pharmakologe Arvid Carlsson (geb. 1923) für
die Entdeckungen zu Signalübertragung im Nervensystem ausgezeichnet.
2014 ehrte das Nobelpreiskomitee das norwegische Ehepaar May-Britt (geb.
1963) und Edvard Moser (geb. 1962). Sie erhielten die Auszeichnung für
ihre Arbeiten zur räumlichen Orientierung und zum räumlichen Gedächtnis,
mit denen erstmals eine psychologische Funktion auf mechanistischem
Niveau auf die Funktion von (einzelnen) Neuronen zurückgeführt werden
konnte.

Quelle: EAN 2016 Abstract Stien R, A short introduction
to the history of Scandinavian neurology: from the sagas to the Nobel
prizes