Psychische Belastungen und Suchtrisiko bei sexuellen Minoritäten
fzm, Stuttgart, November 2018 – Rund fünf
Prozent aller Menschen in Deutschland gehören einer sexuellen Minderheit
an – sie definieren sich also nicht als heterosexuell, sondern als
homo- beziehungsweise bisexuell oder als Transgender*Personen. In
Studien weisen sie eine stärkere Belastung infolge von Diskriminierung
und Stigmatisierung auf. Daher entwickeln sie mit höherer
Wahrscheinlichkeit eine psychische Störung, so dass ein vermehrter
Bedarf an psychotherapeutischer Unterstützung für diese Gruppen
angenommen werden kann. Hierzulande mangelt es jedoch an spezifischen
Behandlungsangeboten. Die Fachzeitschrift „Suchttherapie“ (Georg Thieme
Verlag, Stuttgart. 2018) widmet sich dem Thema in mehreren
Fachbeiträgen. Experten und Expertinnen weisen darauf hin, dass sexuelle
Minoritäten häufiger unter Ängsten und Depressionen leiden. Sie haben
zudem ein erhöhtes Risiko, eine Suchterkrankung zu entwickeln, was
Auswirkungen auf eine Psychotherapie haben kann.
Professorin Dr. phil. Irmgard Vogt hat das Schwerpunktthema
koordiniert und selbst einen Übersichtsartikel verfasst. „In der
deutschen Sozial- und Suchtforschung spielt die sexuelle Identität
bislang leider kaum eine Rolle“, sagt die Psychologin, die bis 2009 an
der Frankfurt University of Applied Sciences gelehrt hat. Daher greift
sie hauptsächlich auf Studien aus dem anglo-amerikanischen Raum zurück.
Hier wurden und werden deutlich häufiger auch die sexuelle Identität,
sexuelle Präferenzen und das Sexualverhalten abgefragt und in Bezug zu
psychische Störungen und der Entwicklung von Suchterkrankungen sowie
entsprechender Behandlungsangebote gesetzt.
Eine Reihe von Studien zeigt, dass psychische Belastungen bei
sexuellen Minderheiten – pauschal – betrachtet häufiger auftreten als
bei Heterosexuellen. Sie leiden vermehrt unter Substanzkonsumstörungen.
Dazu zählen ein exzessiver beziehungsweise abhängiger Konsum von
Alkohol, Tabak und anderen psychoaktiven Stoffen. Aber auch
Depressionen, Ängsten und Persönlichkeitsstörungen treten
vergleichsweise oft auf. „Im Vergleich mit heterosexuellen und
homosexuellen Männern und Frauen leiden bisexuelle Frauen besonders
häufig unter diesen psychischen Störungen“, resümiert Vogt. Sie litten
bis zu viermal so häufig unter psychischen Problemen wie heterosexuelle
Frauen. Auch über Suizidversuche berichten bisexuelle Frauen häufiger
als Homosexuelle beider Geschlechter.
Das Wissen um die besonderen Bedürfnisse und Belastungen
sexueller Minderheiten sollte auch in Deutschland deutlich mehr
berücksichtigt werden. Das gelte für Forschungen zum
Gesundheitsverhalten und die Psychotherapieforschung gleichermaßen.
Darüber hinaus sollten in der Suchthilfe und allgemein in der
Psychotherapie die spezifischen Belastungen und Bedürfnisse der
sexuellen Minderheiten eine größere Rolle spielen als bisher, so Vogt.
Während in den USA knapp jede fünfte Anlaufstelle für Suchtkranke auch
spezielle Angebote für sexuelle Minoritäten bereithalte, sei dies
hierzulande nur sehr selten der Fall. Wichtig seien unter anderem
affirmative Therapiestrategien, die das Selbstwertgefühl stärken,
Schuldgefühle verringern und zu einem offenen Umgang mit der eigenen
sexuellen Identität ermutigen.
Dass es für den Therapieerfolg entscheidend sein kann, auf
sexuelle Besonderheiten Rücksicht zu nehmen, wird bei der Suchttherapie
von Trans-Männern und -Frauen besonders deutlich. Wie Forscher des
Interdisziplinären Transgender Versorgungscentrums am
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in ihrem Beitrag darlegen, kann
die Hormonbehandlung, die die Geschlechtsangleichung oft begleitet, die
Dynamik einer Suchterkrankung sowohl abschwächen, als auch verstärken.
Es sei daher wichtig, die Patienten auf mögliche Begleitumstände
vorzubereiten und bereits vor Beginn der Hormontherapie effektive
Strategien zum Umgang mit Suchtdruck und Substanzkonsum zu entwickeln.
Zudem hat die Hormontherapie immer auch einen Effekt auf die Stimmung:
So können Östrogene und Anti-Androgene (feminisierende Hormone) und
Androgene (maskulinisierende Hormone) einen positiven oder negativen
Einfluss auf bereits vorhandene affektive Störungen und somit
Auswirkungen auf die Psychotherapie haben.
I. Vogt:
Sexuelle Identität, der Konsum von Alkohol und anderen Drogen,
gesundheitliche Probleme und Behandlungsansätze: Ein unsystematischer
Forschungsüberblick
Suchttherapie 2018; 19 (4); S. 168–175