Bildungsdiskussion geht an Bedürfnissen der Jugendlichen vorbei
Berlin (pte/09.01.2007/08:42) – 2007 soll ganz im Zeichen der
Geisteswissenschaften stehen. Doch die Ausstrahlung der Germanistik
oder Geschichtswissenschaft auf die Öffentlichkeit ist nach
Expertenmeinung eher marginal. Anders als in den angelsächsischen
Ländern schotten sich manche Gelehrte gern von der breiten Masse ab und
bewohnen ihre Eigentumswohnung im Elfenbeinturm. Unter dem Motto
"Geisteswissenschaften. ABC der Menschheit" wird das Wissenschaftsjahr
2007 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
http://www.bmbf.de/ gemeinsam mit der Initiative "Wissenschaft im
Dialog" http://www.wissenschaft-im-dialog.de/ ausgerichtet.
Was bleibt aber vom Informatikjahr 2006? Es habe die Erwartungen seiner
Organisatoren erfüllt. Bildungspolitiker und Informatiker zeigten sich
zufrieden. Nun gelte es, die positiven Wirkungen nicht wie ein
Strohfeuer verpuffen zu lassen und Technikfeindlichkeit,
IT-Fachkräftemangel sowie digitale Spaltung weiterhin nachhaltig zu
bekämpfen, berichtet das Onlineportal der ZDF-Nachrichtensendung heute
http://www.heute.de/ . Die Experten fordern, der Informatik ein
weiteres Wissenschaftsjahr zu widmen. Dass die Gesellschaft ein
besonderes Interesse für Naturwissenschaften und Technik zeigt, daran
meldet der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg Lothar Späth
erhebliche Zweifel an. Früher sei das anders gewesen: "Lokomotivführer
und Astronauten waren lange Zeit Galionsfiguren der modernen
Industriegesellschaft." Späth zufolge haben sich die kindlichen
Berufswünsche geändert, "weil sich unsere Gesellschaft mit der
Beherrschung von moderner Technik nicht mehr so stark identifiziert wie
früher, geschweige denn den ‚Fortschritt durch Technik‘ mit
Leidenschaft betreibt". Cicero-Chefredakteur Wolfram Weimer habe darauf
hingewiesen, dass die "Heldenkultur von einst", die Entdecker, Erfinder
und Tüftler in den Mittelpunkt der Verehrung gerückt habe, der "Welt
der Models, Fußballer und Showmaster" gewichen sei.
Schwierigkeiten mit einem solchen kulturkritischen Ansatz hat Michael
Sander von der Lindauer Unternehmensberatung Terra Consulting Partners
(TCP) http://www.terraconsult.de/ . "Späth will eine – wie er sagt –
kulturelle Haltung überwinden, um Naturwissenschaften und Technik
wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Eine solche
geistig-moralische Wende ist sehr schwer zu bewerkstelligen. Angesichts
des sich schon jetzt abzeichnenden Mangels an Fachkräften können wir
uns das aber nicht leisten", sagt Sander. Man solle sich gar nicht
darauf konzentrieren, den jungen Leuten ihren Spaß an Sportstars oder
sonstigen Superstars zu vergällen, die sie täglich bei deren Arbeit im
Fernsehen beobachten könnten. "Für mich heißt das, dass die Tüftler und
Ingenieure noch stärker als bisher auf die jungen Leute zugehen müssen,
zum Beispiel in den Schulen. Jugendliche begeistern sich doch durchaus
für moderne Technik. Sie mögen Computer, Autos oder iPods. Es ist
besser, durchaus auch den Spaßfaktor bei modernen Technik zu sehen.
Früher wollten die Kinder ja schließlich auch Lokomotivführer oder
Astronaut werden, weil sie sich diese Tätigkeiten als spannend
vorstellten. Kein Kind möchte später Ingenieur werden, um das Land vor
einem Mangel an Ingenieuren zu bewahren", so der Berater. "Wenn Späth
plakativ Naturwissenschaft statt Selbstinszenierung fordert, ist mir
das zu defensiv. Auch mit dem dauernden Lamento über den Hedonismus und
die vermeintliche Oberflächlichkeit der Gesellschaft kommt man bei den
Jugendlichen nicht weiter", betont Sander.
Die Wertediskussionen von Politikern, Pädagogen und Wissenschaftlern
gehe nach Ansicht von Michael Müller, Geschäftsführer der auf
IT-Dienstleistungen spezialisierten a&o-Gruppe
http://www.ao-services.de/ und Wirtschaftssenator des Bundesverbandes
mittelständische Wirtschaft (BVMW), am Kern der Probleme in Deutschland
vorbei: "Die Lehrkräfte vermitteln keine Technikbegeisterung, keinen
Gründergeist und keine positive Einstellung zur Markwirtschaft. Das
beweist der Global Entrepreneurship Monitor (GEM) der Universität
Hannover. In der Kategorie‘ gesellschaftliche Werte und Normen, also
der Akzeptanz von Selbständigen und Gründern, ist Deutschland
mittlerweile ins unterste Drittel von 33 untersuchten OECD-Staaten
abgerutscht. Eine Kultur des selbständigen Handelns wird in Schulen und
Universitäten von den öffentlich-rechtlich abgesicherten Lehrern und
Professoren nicht vermittelt. Bei der gründungsbezogenen schulischen
Ausbildung liegen wir nur auf Platz 29. Selbst China hat uns überholt",
kritisiert Müller gegenüber pressetext. Ökonomen, Naturwissenschaftler,
Unternehmer und Erfinder würden in der Öffentlichkeit wenig Anerkennung
genießen. "Hauptmeinungsbildner sind eher Schriftsteller und
Kulturschaffende, die ihre antikapitalistischen und technikfeindlichen
Ressentiments pflegen. In einem Land, dessen Zukunft von
Wirtschaftskraft und technischem Fortschritt abhängt, ist das ein
Alarmzeichen", warnt Müller. Links- und Rechtsintellektuelle
verströmten keinen progressiven Geist. "Die meisten sind technologische
Angsthasen, globalisierungsfeindlich eingestellt und hängen an
überholten Kulturbildern, die mit der Lebenswelt des 21. Jahrhunderts
nichts mehr zu tun haben", moniert Müller. Die staatszentrierte
Sichtweise sei nach Auffassung Hans-Wolff Graf vom Bundesverband für
Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik http://www.zeitreport.de/ ein
Ergebnis des politischen Systems. Selbständigkeit als Antrieb für
Veränderungen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel werde von
den Staatsparteien überhaupt nicht gewünscht. "Unsere Politiker leben
zu gut von dem System der Entmündigung", so Graff im Interview mit der
Zeitschrift brandeins http://www.brandeins.de/ .