Brexit: Schleichender Niedergang
Solides Wirtschaftswachstum
und fast Vollbeschäftigung: Großbritannien geht es trotz Brexit offenbar
immer noch gut. Stimmt das? Eine Analyse
Von Marcus Gatzke
Boris Johnson und andere Brexit-Hardliner nannten es abschätzig "Project Fear": Die Warnungen vor den ökonomischen Folgen eines EU-Austritts seien nur dazu da, die britische Öffentlichkeit zu verängstigen. Michael Gove, britischer Justizminister zum Zeitpunkt des Referendums im Jahr 2016, verstieg sich sogar zu der Aussage, die Menschen in Großbritannien hätten genug von Experten, die sowieso meist falschlägen.
Nun sind mehr als zwei Jahre vergangen – und der britischen Wirtschaft
scheint es immer noch gut zu gehen. Hatten die Brexiteers am Ende
recht?
Untersuchungen zeigen: Die
Wirtschaftsprognosen, die rund um den Volksentscheid im Juni 2016
veröffentlicht wurden, waren in der Mehrheit zu pessimistisch. Ökonomen überschätzten die kurzfristigen negativen Folgen des Brexit-Referendums. Die von manchen Experten befürchtete Rezession ist ausgeblieben. Das macht es Populisten wie Boris Johnson oder Jacob Rees-Mogg bis heute erheblich leichter, für einen harten Ausstieg aus der EU zu
polemisieren; schließlich herrscht trotz Brexit-Entscheidung noch immer
fast Vollbeschäftigung.
Ein genauer Blick aber zeigt: Der EU-Austritt ist für Großbritannien schon jetzt schmerzhaft.
- Das Wachstum lässt nach
Großbritanniens Wirtschaft wächst – aber erheblich schwächer als vor dem Referendum.
Während die britische Ökonomie zuletzt nur noch um 1,2 Prozent zugelegt
hat, lag das Wachstum in der restlichen EU bei 2,3 Prozent. Eine
ähnliche Entwicklung zeigt sich auch weltweit: Großbritannien ist vom Wachstumsspitzenreiter innerhalb der G7-Staaten zu einem Schlusslicht geworden.
Aber was heißt das konkret? Nach Berechnungen von Ökonomen verliert die britische Wirtschaft pro Woche 350 Millionen Pfund. Bis
Mitte 2018 habe sich das Minus auf rund zwei Prozent des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) summiert, haben sie in einer Modellrechnung
ermittelt. Bis Ende 2019 könnte es sich auf 3,4 Prozent erhöhen. Die
Forscher nennen zwei mögliche Ursachen: eine wachsende Unsicherheit, die
sich kurzfristig negativ auf Investitionen und Konsum auswirke, sowie
ein reduzierter Handel mit dem europäischen Festland. Die Konsequenz:
Großbritannien werde durch den Brexit dauerhaft ärmer. Andere Forscher kommen sogar auf noch größere Verluste.
- Die Investitionen stagnieren
Eine Vielzahl von britischen
und ausländischen Unternehmen hat seit dem Referendum angekündigt,
geplante Investitionen in Großbritannien zu überdenken oder sogar einen
anderen Standort auszuwählen. Deshalb haben private Investitionen seit
Mitte 2016 nur noch leicht zugelegt, obwohl die britische Wirtschaft
weiterhin wächst und nahezu Vollbeschäftigung herrscht. In den ersten beiden Quartalen dieses Jahres sind die Investitionen sogar wieder gesunken.
Dabei sollte gerade die gute
Lage auf dem Arbeitsmarkt für Unternehmen ein Anreiz sein, in neue
Technologien zu investieren. Stattdessen haben vor allem Firmen aus der Automobilindustrie ihre Pläne erst mal auf Eis gelegt. Vor dem Referendum war die britische Notenbank noch von einem "robusten Wachstum" ausgegangen. Experten gehen davon aus,
dass die britische Wirtschaft wegen der Brexit-Entscheidung bislang
Investitionen in Höhe von 22 Milliarden Pfund verloren hat.
- Das Pfund schwächelt
Das britische Pfund hat nach
dem Brexit-Votum schockartig gegenüber dem Dollar und dem Euro an Wert
verloren. Zwei Jahre später hat sich der Wechselkurs nur wenig erholt.
Der Grund ist auch hier: Unsicherheit. Investitionen werden
zurückgehalten, bis klar ist, in welchem Verhältnis Großbritannien
künftig zur Europäischen Union steht. Ein fallender Wechselkurs macht
Importe teurer und führt tendenziell dazu, dass die Inflation im Land
steigt.
Aber ein billiges Pfund ist
per se nicht nur negativ. Die Abwertung kann die Wettbewerbsfähigkeit
der Exportindustrie erhöhen, da die Unternehmen ihre Produkte auf dem
Weltmarkt günstiger anbieten können. Großbritannien ist aber kein
klassisches Exportland. Die Exportquote, also das Verhältnis zwischen Güterexporten und BIP,
liegt bei rund 16 Prozent – werden Dienstleistungen mitberücksichtigt,
sind es rund 30 Prozent. Zum Vergleich: Der Durchschnitt in der
restlichen EU (ohne die Briten) liegt bei 36 (respektive 49) Prozent.
Großbritanniens Wirtschaft ist nicht auf den Export von Gütern
spezialisiert, sondern vor allem von der Finanzindustrie in London
abhängig. Sie macht rund sieben Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung
aus.
Schleichender Niedergang
Großbritannien verliert an Attraktivität
- Der Arbeitsmarkt ist noch robust
Auf dem britischen Arbeitsmarkt sieht es dagegen immer noch gut aus. Die Arbeitslosenquote ist mit vier Prozent so niedrig, wie seit den Siebzigerjahren nicht mehr.
Dies liegt allerdings auch daran, dass Arbeitslose, etwa weil sie in
Rente gehen, nach einer gewissen Zeit nicht mehr in der Statistik
auftauchen und die sogenannte Gig Economy in den vergangenen Jahren zahlreiche Teilzeitbeschäftigte und
Scheinselbstständige geschaffen hat. Trotzdem: Die Beschäftigung steigt
auch nach dem Referendum, es werden sogar vermehrt Vollzeitstellen
geschaffen.
Unter dem Strich bleibt für
die britischen Beschäftigten aber kaum mehr übrig. Die Inflation ist in
den vergangenen zwei Jahren in der Spitze auf 2,8 Prozent gestiegen, das
Lohnwachstum lag trotz der hohen Beschäftigung und der niedrigen
Arbeitslosigkeit nur marginal höher. Ein möglicher Grund für die
gestiegene Inflation ist der schwache Wert des Pfundes: Importe sind
teurer geworden und die Unternehmen reichen ihre höheren Kosten nach und
nach an die Konsumenten weiter.
Der Arbeitsmarkt ist zudem ein nachlaufender Faktor. Es braucht meist länger, bis negative Ereignisse sichtbar werden. Bernard Fingleton von der Universität Cambridge hat errechnet:
Sollte sich das Handelsvolumen zwischen der EU und Großbritannien durch
den Brexit um lediglich zwei Prozent reduzieren und nicht durch mehr
Handel mit anderen Teilen der Welt ausgeglichen werden, würden bis 2025
allein in der Region London 66.500 Jobs wegfallen. In anderen Teilen
Großbritanniens wären die Verluste niedriger, aber immer noch spürbar.
- Die Zuwanderung geht zurück
Viele EU-Bürger, die in
Großbritannien leben und arbeiten, treibt nach dem Referendum die Sorge
um: Werde ich langfristig bleiben können oder muss ich gehen?
Mittlerweile ist klar, dass sich für die EU-Bürger, die bereits auf der
Insel leben und arbeiten, nur wenig ändern wird. Aber die Stimmung im
Land gegenüber Ausländern hat sich verschlechtert. Und der niedrige
Wechselkurs des Pfunds macht den Standort für osteuropäische
Arbeitskräfte, die Geld nach Hause schicken wollen, weniger attraktiv.
Zog es zwischen Juni 2015 und Juni 2016 noch insgesamt 284.000 EU-Bürger nach Großbritannien,
waren es zwischen März 2017 und März 2018 nur noch 226.000. Im gleichen
Zeitraum stieg die Zahl der EU-Bürger, die Großbritannien verlassen
haben, auf 138.000. Aus anderen Regionen der Welt kommen dagegen leicht
mehr Zuwanderer als noch vor zwei Jahren.
Ab 2021 und einem
vollzogenen Brexit sollen EU-Bürger genauso behandelt werden wie
Migranten aus dem Rest der Welt. So will es zumindest die britische
Premierministerin Theresa May. Gerade die Zuwanderung von
Geringqualifizierten soll stark reduziert werden. Das allerdings
kritisieren britische Unternehmerverbände als ignorant und elitär. Auch verschiedene britische Ökonomen sehen eine deutlich geringere Migration negativ für die wirtschaftliche Entwicklung.