Mut zu weniger Reinlichkeit?
Mehr Lebewesen auf unseren Körpern und in unseren Häusern könnten helfen, Krankheiten zurückzudrängen – wenn wir sie leben lassen
Leipzig, Raleigh. Gelten auf unserem Körper und in unserenHäusern die gleichen Gesetze der biologischen Vielfalt wiedraußen in der Natur? Wenn ja, wären unsere aktuellenHygienemaßnahmen zur Bekämpfung aggressiver Keime teilweisekontraproduktiv. Das schreibt ein interdisziplinäres Forscherteam vomDeutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv)in der Fachzeitschrift Nature Ecology & Evolution undschlägt vor, die Rolle der Artenvielfalt verstärkt auch beiMikroorganismen in den Ökosystemen Körper und Haus zuuntersuchen. Die Erkenntnisse daraus könnten bisherige Strategien zurBekämpfung von Infektionskrankheiten und resistenten Keimen auf denKopf stellen.
Ökosysteme wie Wiesen und Wälder mit hoher biologischerVielfalt sind widerstandsfähiger gegenüber Störungen wieeindringenden gebietsfremden Arten, Klimaschwankungen oderKrankheitserregern. Reduziert man diese Vielfalt, gehen grundlegendeFunktionen der Lebensgemeinschaften im Ökosystem verloren. Diesesogenannte Stabilitätstheorie wurde in Hunderten von biologischenStudien belegt. Diese behandelten allerdings vorwiegend die Welt der Tiereund Pflanzen. Betrachtet man unseren Körper oder unser Zuhause durchein Mikroskop, eröffnet sich eine genauso vielfältigeLebensgemeinschaft aus Mikroorganismen. Möglicherweise gelten fürsie ähnliche Gesetze wie für die „großen“Ökosysteme. Dies hätte weitreichende Konsequenzen für unsereGesundheitsvorsorge.
Wissenschaftler vom Forschungszentrum iDiv schlagen in einem im Novemberveröffentlichten Artikel in der Fachzeitschrift Nature Ecology& Evolution vor, die Theorien aus der Ökosystemforschung auchan unserer unmittelbaren Umwelt und deren Mikroorganismen zu testen.
„Wir beeinflussen diese Mikro-Biodiversität täglich, vorallem indem wir sie bekämpfen, beispielsweise durchDesinfektionsmittel oder Antibiotika – eigentlich mit dem Ziel, dieGesundheit zu fördern“, erzählt der Ökologe RobertDunn, Professor an der Universität North Carolina State und derUniversität Kopenhagen. Dunn verfasste den Artikel während eineseinjährigen Gastaufenthaltes bei iDiv gemeinsam mitiDiv-Wissenschaftler Nico Eisenhauer, Professor an der UniversitätLeipzig. „Diese Eingriffe in mikrobielle Artzusammensetzungenkönnten die natürliche Eindämmung von Krankheitserregernbehindern“, meinen die Forscher.
Nach dem ökologischen Nischenmodell teilen sich Pflanzen oder Tieredie vorhandenen Ressourcen in ihrem Lebensraum auf, wobei Arten mitähnlichen Bedürfnissen miteinander konkurrieren. Neuhinzukommende Arten haben es schwer, sich zu etablieren, zumindest in einemstabilen Ökosystem. Auf artenarmen oder vom Menschen gestörtenStandorten können sich gebietsfremde Arten hingegen wesentlichleichter breitmachen.
Mikroorganismen bilden ebenfalls eigene Ökosysteme. Bislang sindmehr als zweihunderttausend Arten bekannt, die in menschlichen Behausungensowie auf und in menschlichen Körpern leben. Die Hälfte davonmachen Bakterien in menschlichen Behausungen aus, tausende Bakterienartenleben auf unseren Körpern. Dazu kommen rund vierzigtausend Pilzartenin unseren Häusern, die sich jedoch weniger auf menschlichenKörpern finden.
„Krankheitserreger in unserem Umfeld sind vergleichbar mitinvasiven Organismen in der Natur“, sagt der Ökologe NicoEisenhauer. „Überträgt man die Erkenntnisse aus dengroßen Lebensräumen auf die Welt der Mikroben, muss man daherbefürchten, dass unsere notorische Nutzung von Desinfektionsmittelnund Antibiotika die Ausbreitung gefährlicher Keime sogar nocherhöht, weil dadurch die natürliche Artengemeinschaftgestört wird.“ Dies wurde beispielsweise fürStäbchenbakterien der Art Clostridium difficile nachgewiesen,die Darmentzündungen mit Durchfall auslösen. Nach der Einnahmevon Antibiotika konnten sie sich schneller ausbreiten. SogenannteNichttuberkulöse Mykobakterien (NTMs), die einen Biofilm vorrangig anDuschköpfen bilden und zum Teil Krankheiten auslösen können,kommen vor allem bei gechlortem Wasser vor. Auf metallenenDuschschläuchen können sie sich weitgehend ungehindert vermehren,während Duschschläuche aus Kunststoff, die eine reicheGemeinschaft an Mikroorganismen begünstigen, geringere Mengen von NTMsaufweisen.
Bakteriengemeinschaften, die Krankheiten vorbeugen, lassen sich auchaktiv herstellen. So fanden etwa Forscher in den 1960er Jahren heraus, dassBabys, deren Nasen und Bauchnabel mit harmlosen Stämmen des BakteriumsStaphylococcus aureus beimpft wurden, nur selten von S. aureus80/81 besiedelt wurden. Dieses Bakterium kann Krankheiten vonHautinfektionen bis zu lebensbedrohlichen Blutvergiftungen oderLungenentzündungen auslösen. Ein weiteres Beispiel sindStuhltransplantationen: Indem man eine gesunde Gemeinschaft anMikroorganismen von Mensch zu Mensch überträgt, ist esmöglich, Darminfektionen zu behandeln.
Ist unsere Angst vor Bakterien und Co. also unbegründet und ihrereflexartige Bekämpfung sogar gefährlich? „Wir sind keineMediziner“, meint Eisenhauer. „Ich würde also mitSicherheit keinem Chirurgen empfehlen, unsteril am offenen Körper zuarbeiten. Was allerdings Oberflächen anbetrifft, könnten gezielteBeimpfungen mit einer ausgesuchten Mikrobengemeinschaft die Ausbreitunggefährlicher Erreger möglicherweise verhindern.“
Ohnehin löst nur ein relativ geringer Anteil der Mikroorganismen inunserem Umfeld tatsächlich Krankheiten aus. Das gilt auch fürInsekten und andere Gliederfüßer, die in Wohnungen undHäusern in der Regel als Störenfriede betrachtet werden –allen voran Spinnen. Diese erbringen als Räuber wichtigeÖkosystemleistungen indem sie Stechmücken, Bettwanzen, Schabenoder Hausfliegen dezimieren, die wiederum Krankheiten übertragenkönnen. „Wir müssen sie nur lassen“, meint RobertDunn.
Wo die Theorien aus der Biodiversitäts- und Ökosystemforschungim Gesundheitsbereich zutreffen, sollte nach Ansicht der drei Autorensystematisch untersucht werden. Eisenhauer schlägt hierzu zum einenvor, zu testen, in welcher Mikrobengesellschaft sich gängigeKrankheitserreger auf Oberflächen besser oder schlechter ausbreitenkönnen. Längerfristig soll so die ideale Artenzusammensetzung„guter“ gegen „böse“ Mikroben gefundenwerden.
Sebastian Tilch
Originalpublikation (iDiv-Wissenschaftler fett):
Dunn, R. R., Reese, A. T., & Eisenhauer,N. (2019). Biodiversity-ecosystem function relationships on bodiesand in buildings. Nature Ecology & Evolution, 3(1), 7-9. doi:10.1038/s41559-018-0750-9