Raus aus Depression, Angst oder Essstörung – mit PC statt Psychotherapeut?
Wann Online-Psychotherapie geeignet ist und was Nutzer beachten sollten
Berlin
– Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet: Jeder zehnte, so
Schätzungen des Robert Koch-Instituts, ist hierzulande beispielsweise
von einer Depression betroffen. Psychische Beschwerden wie Ängste,
Süchte oder Depressionen stehen zudem an zweiter Stelle der Ursachen für
krankheitsbedingte Fehltage. Auf der Suche nach Hilfe nutzen viele
Betroffene auch das Internet, wo mittlerweile eine Vielzahl von
Programmen und Apps zur Intervention bei psychischen Beschwerden
verfügbar sind. Sie bieten auf den ersten Blick viele Vorteile: sie sind
ortsunabhängig nutzbar, lange Wartezeiten auf Therapieplätze lassen
sich überbrücken, die Hemmschwelle, einen Therapeuten aufzusuchen,
entfällt. Bisher aber fehlen einheitliche Standards zu Qualität,
Patientensicherheit und Finanzierung solcher Angebote. Wie sollten
Betroffene also richtig vorgehen? Welche Vorteile, welche Grenzen hat
Online-Psychotherapie? Diese Fragen thematisieren Experten auf der
morgigen Pressekonferenz anlässlich des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Berlin.
Für welche psychischen Beschwerden sind elektronische Angebote verfügbar und geeignet?
Die
meisten Erkenntnisse liegen aktuell für Interventionen bei Depressionen
und Angststörungen vor. Hier haben verschiedene Online-Programme in
Studien ihre Wirksamkeit und nachhaltigen Effekte bewiesen – und zwar in
vergleichbarer Qualität mit konventioneller Psychotherapie. Bei diesen
handelt es sich meist um therapeutenunterstützte Programme – das heißt,
der Patient durchläuft das Therapieprogramm weitestgehend selbstständig,
erhält aber regelmäßig Rückmeldung durch einen Therapeuten, der auch
für Fragen zu Verfügung steht. Digitale Anwendungen kommen außerdem
ergänzend zur klassischen Therapie und in der Nachsorge zum Einsatz,
etwa in der Rückfallprävention von Essstörungen und bei Adipositas.
Insbesondere für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen haben sich Serious Games,
in denen Therapieinhalte spielerisch vermittelt werden, als wirksam
erwiesen. Außerdem werden E-Mental-Health-Anwendungen für die Behandlung
posttraumatischer Belastungsstörungen erforscht und vereinzelt
eingesetzt. „Ungeeignet sind digitale Anwendungen, wenn sich Menschen in
akuten, schweren Krisensituationen befinden“, sagt Professor Dr. med.
Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsklinik Tübingen.
Wie wirkungsvoll sind Online-Programme?
Im
Allgemeinen gilt: Der therapeutische Effekt bei Online-Verfahren mit
therapeutischer Unterstützung ist höher als bei Programmen, die ohne
Kontakt zu einem Therapeuten angelegt sind. Angebote, die eine sehr
niedrige Zugangsschwelle haben, also beispielsweise anonym und ohne
vorherigen Abklärungsprozess mit einem Therapeuten gestartet werden
können, werden gerne genutzt, aber oft auch wieder abgebrochen. Angebote
mit höherer Zugangsschwelle haben sich in Studien als nachhaltiger
erwiesen, das gilt vor allem bei Programmen zur Behandlung einer
Depression. „Generell ist eine vorgeschaltete Diagnostik durch einen
Facharzt empfehlenswert, bei der sich dieser einen ausreichenden
Eindruck vom Patienten und seinem körperlichen und psychischen Zustand
und seine soziale Einbindung machen kann“, empfiehlt Zipfel.
Wie finden Betroffene ein seriöses Angebot?
Die
Flut von Gesundheits-Apps und -Programmen im Netz ist schier
unüberschaubar. Darunter sind auch zahlreiche unseriöse oder nutzlose
Angebote. Derzeit existiert kein einheitlicher Standard oder eine
Zertifizierung für Online-Psychotherapieprogramme, die Nutzern als
Orientierung dienen könnten. Patienten sollten deshalb ihren Hausarzt
oder Therapeuten fragen, welche Programme wirksam und für sie geeignet
sind. Ein alternativer Weg führt über die Krankenkasse: Inzwischen
bieten viele Versicherer ihren Mitgliedern kostenfrei
Online-Interventionen für verschiedene Beschwerdebilder an. Aber auch
hier ist bei vielen Angeboten eine vorherige Abklärung bei einem
Therapeuten Voraussetzung für die Teilnahme. Die
Bundespsychotherapeutenkammer hat zudem eine Checkliste für
Interessierte zusammengestellt, anhand derer sie Angebote kritisch
hinterfragen können. Dazu gehören Aspekte zu Datensicherheit und der
fachlichen Qualifikation der Ansprechpartner bei den Programmen: www.bptk.de/uploads/media/20170627_patienten-checkliste.pdf
„Inzwischen
stehen zahlreiche E-mental-Health-Interventionen – Online-Programme,
Apps, Computerspiele oder Virtual Reality- Anwendungen – zu Verfügung,
die großes Potential als Ergänzung zur klassischen Psychotherapie
haben“, sagt Professor Zipfel. Ein Problem seien derzeit aber die
fehlenden Standards. „Digitale Anwendung müssen – wie andere
Medizinprodukte auch – im Hinblick auf Wirksamkeit und
Patientensicherheit geprüft und zertifiziert werden und wirksame
Angebote sollten dann auch allen Versicherten zu Verfügung stehen.“