Neutrinos auf der genauesten Waage der Welt

Meine Bemerkung:

Neutrinos
ind ungeladene Teilchen, die etwa vom Gewicht her mit einem Elektron
vergleichbar sind. Neutrinos schwirren auch im Weltall herum. Wenn sie
die Erde erreichen, können sie diese ohne Widerstand durchdringen und
auf der anderen Erdseite wieder herauskommen. Da sie ungeladen sind, ist
es außerordentlich schwierig, diese Neutrinos in Meßexperimenen
überhaupt wahrzunehmen. Bzgl. der kosmischen Neutrinos gib es allerdings
im italienischen Gransasso-Gebirge – einem Teil des Appenin-Gebirges –
eine Einrichtung. In einem Straßen-Tunnel, über dem 2000 Meter
Granitfelsen lagert, gibt es eine Abzweigung zu einer unterirdischen
Kammer, wo diese in großfächigen Stickstoffbehältern gelegentlich Spuren
hinterlassen. Die Granitschicht sorgt dafür, dass auf der Erde
entstehende Neutrinos abgeschirmt werden und  die kosmischen eindeutig
identifiziert werden können. Vor etlichen Jahren konnte ich dieses
Forschungslabor besuchen, es war persönlich eines der eindruckvollsten
Begegnungen mit dieser Art Forschung. Dass die Masse von Neutrinos jetzt
vermessen werden können, dafür sorgt jetzt die präziseste Waage der
Welt.

Dazu lesen Sie folgenden Beitrag:

Ihr Jean Pütz

Wie schwer sind
Neutrinos? Diese unscheinbare Frage gehört zu den wichtigsten
Fragestellungen in der modernen Teilchenphysik und Kosmologie. Der
Antwort einen großen Schritt näher bringt uns das Karlsruher Tritium
Neutrino Experiment KATRIN. Es wurde am Karlsruher Institut für
Technologie von einer internationalen Kollaboration in 15-jähriger
Bauzeit aufgebaut und beginnt am 11. Juni 2018 mit einer feierlichen
Eröffnung seine mehrjährige Messphase
.

Die Neutrinowaage
KATRIN nimmt den Messbetrieb auf. Nach Hauptspektrometer und
Detektoreinheit ist mit der Tritiumquelle auch die letzte der
Großkomponenten des Experimentes installiert. Erstmals werden nun durch
den Beta-Zerfall von hochreinem Tritiumgas die Elektronen und Neutrinos
erzeugt, deren Energieverhältnis von KATRIN bestimmt werden soll. Ein
großes Team an erfahrenen Physikern, Ingenieuren und Technikern am
Karlsruher Institut für Technologie (KIT) sorgt dabei für den
reibungsfreien Betrieb der zahlreichen Hochtechnologie-Bausteine bei
KATRIN und am Tritiumlabor Karlsruhe (TLK).

Bundesforschungsministerin
Anja Karliczek sagt: „KATRIN ist ein Experiment der Superlative und
wird die Erkenntnisse über unser Universum um ein entscheidendes
Puzzleteil ergänzen. Ich gratuliere dem KIT und der
Forschungskollaboration zum erfolgreichen Aufbau dieses anspruchsvollen
Experiments. Gemeinsam mit Ihnen freue ich mich auf den nun anstehenden
Start der Messphase und die ersten Forschungsergebnisse. Ein derartig
wichtiges Experiment auf deutschem Boden stärkt den Forschungsstandort
Deutschland.“ Das Bundesforschungsministerium ist mit etwa 75 Prozent
größter Geldgeber und investierte rund 50 Millionen Euro in den Bau von
KATRIN.

„Große Forschungsgeräte
treiben die technologische Entwicklung voran und bilden am KIT, der
Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft, ein inspirierendes
Arbeitsumfeld für Forschende und Studierende“, resümiert Professor
Holger Hanselka, Präsident des Karlsruher Instituts für Technologie.
„Mit KATRIN hat eine internationale Forschergemeinde ihre Heimat am KIT
gefunden und ich bin gespannt, welche faszinierenden Einblicke in das
Universum uns dieses kreative und interdisziplinäre Team eröffnet.“

„Im Zoo der uns
bekannten Elementarteilchen sind Neutrinos die vielbeachteten
Superstars, die in ihrer Bedeutung für unser modernes Weltbild Quarks
und Co. weit in den Schatten stellen“, erklärt der wissenschaftliche
Co-Sprecher der internationalen KATRIN-Kollaboration, Professor Guido
Drexlin vom KIT. Auch für Kosmologen spielen die beim Urknall in großer
Anzahl erzeugten Neutrinos als „Geisterteilchen des Universums“ eine
Schlüsselrolle beim Verständnis von großräumigen Strukturen im Weltall.
Wie groß diese Rolle genau ist, hängt von der Größe ihrer Masse ab, die
bisher noch unbestimmt ist.

„Erst seit knapp zwei
Jahrzehnten wissen wir, dass Neutrinos – entgegen früheren Vorhersagen
der Teilchenphysiker – überhaupt eine Ruhemasse besitzen“, fährt Guido
Drexlin fort. Diesen Beweis erbrachten die Professoren Arthur B.
McDonald (Queens University, Kanada) und Takaaki Kajita (Tokyo
University, Japan), die erstmals Umwandlungsprozesse von massiven
Neutrinos zweifelsfrei nachweisen konnten. Dafür wurden sie 2015 mit dem
Nobelpreis für Physik geehrt. Bis heute ist die von Null verschiedene
Neutrinomasse der einzige im Labor bestätigte Hinweis auf neue Physik
jenseits des Standardmodells der Teilchenphysiker.

„KATRIN wird auf den
bahnbrechenden Untersuchungen von McDonald und Kajita aufbauen und dabei
andere physikalischen Prinzipien und experimentelle Methoden benutzen,
um die Masse des Neutrinos modellunabhängig zu bestimmen“, erläutert
Guido Drexlin. Die beiden mit KATRIN eng verbundenen Nobelpreisträger
werden der Einweihung beiwohnen, wie viele andere internationale
Fachkollegen auch. „KATRIN ist ein internationales Flaggschiffprojekt,
auf dessen Resultate wir sehr gespannt sind“, äußerten sie sich im
Vorfeld der Einweihung.

Bei den später 100
Milliarden Beta-Zerfallsprozessen von molekularem Tritium pro Sekunde in
der Tritiumquelle von KATRIN entstehen jeweils ein Elektron und ein
Neutrino, die sich die Zerfallsenergie von 18.600 Elektronenvolt teilen.
In extrem seltenen Fällen geht das Neutrino dabei fast „leer aus“, und
das Elektron erhält praktisch die gesamte Energie. Durch Einsteins
berühmte Formel E=mc² wissen wir, dass das beim Zerfall nicht
beobachtbare Neutrino mindestens seine Ruhemasse wegtragen muss, sodass
die entsprechende Energie dem Elektron fehlt. Genau diesem winzigen
Fehlbetrag von höchstens 0,2 Elektronenvolt (das entspricht der
unvorstellbar geringen Masse von 3,6×10-37 Kilogramm)  sind die
KATRIN-Forscher mit ihrer Neutrinowaage auf der Spur. Sie soll messen,
welche maximale Energie die Elektronen aus dem Beta-Zerfall von Tritium
erreichen. Gegenüber früheren Neutrinomassen-Experimenten verfügt KATRIN
über eine um einen Faktor 100 intensivere Quelle und stark verbesserte
spektroskopische Eigenschaften. „KATRIN ist ein Wunder der Technik“,
schwärmt Professor Ernst Otten von der Universität Mainz, der frühere
Messungen an einem Vorläuferexperiment in Mainz geleitet hat und der
einer der Gründerväter von KATRIN ist.

Bei den
Inbetriebnahme-Messungen konnte das KATRIN-Team viele technische
Neuerungen erfolgreich erproben und dabei diverse „Weltrekorde“
aufstellen. „Eine besondere Erfolgsgeschichte ist das ultrapräzise
Hochspannungssystem und das 700 Quadratmeter große Drahtelektrodensystem
für das große Spektrometer. Ohne derartige Entwicklungen würde KATRIN
nicht die gewünschte Empfindlichkeit auf die Neutrinomasse erreichen
können“, erläutert Professor Christian Weinheimer von der Universität
Münster, ebenso Guido Drexlin, wissenschaftlicher Co-Sprecher von
KATRIN, der mit seiner Gruppe durch die Entwicklung und den Bau
wichtiger Komponenten an wesentlichen Stellen zum Erfolg des Projekts
beigetragen hat. Zahlreiche der für KATRIN entwickelten Technologien
finden bereits jetzt in anderen Experimenten und sogar in anderen
Disziplinen Anwendung. Das internationale Team konnte vor kurzem einen
letzten wichtigen Erfolg feiern: Die sehr anspruchsvollen Anforderungen
an die Stabilitätsparameter der Quelle konnten um mehr als eine
Größenordnung unterboten werden.

Die Tritiumquelle
besteht aus einem 16 Meter langen hochkomplexen Kryostaten, der wie alle
anderen Komponenten der Quelle im TLK aufgebaut ist. Das TLK mit seiner
weltweit einzigartigen Tritium-Infrastruktur gab den Ausschlag, dass
KATRIN am KIT steht. Die Elektronen aus der Quelle werden über starke
Magnete zum Herzstück von KATRIN geleitet, dem riesigen
elektrostatischen Spektrometer. Dieses wurde 2006 in einer
aufsehenerregenden Reise vom Hersteller in Oberbayern auf dem Schiffsweg
über die Donau, das Mittelmeer und dann rheinaufwärts zum KIT gebracht.
Das Spektrometer ist seit mehreren Jahren der weltgrößte
Ultrahochvakuum-Behälter: In seinem Inneren ist der Druck so niedrig wie
an der Mondoberfläche. Ein System von aktiven und passiven
Pumpsystemen  sorgt dafür, dass kein Tritiummolekül von der Quelle ins
Ultrahochvakuum des Spektrometers gelangt. 

Nach vielen Jahren der
Planung und des Aufbaus sowie der Inbetriebnahme der Großkomponenten des
70 m langen Experimentaufbaus freuen sich die knapp 200 Mitglieder der
internationalen KATRIN Kollaboration aus 20 Institutionen in sieben
Ländern, dass die Messungen nun im Juni 2018 starten. „Ich bin besonders
stolz auf unser enthusiastisches Team mit seinem unglaublichen Einsatz
und seiner breiten Expertise“, betont Drexlin, der als Projektleiter
auch den Aufbau von KATRIN am KIT koordinierte. „Mein besonderer Dank
gilt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der
Helmholtz-Gemeinschaft, die den Aufbau von KATRIN über viele Jahre
unterstützt und finanziert haben.“

„Die einzigartigen
Eigenschaften von Quelle und Spektrometer sind von großer Wichtigkeit
für die komplexe Datenauswertung. Gerade die ersten Wochen der
Datennahme werden besonders spannend werden, da wir dann bereits in
experimentelles Neuland vorstoßen können“, stellt Dr. Kathrin Valerius
fest, die am KIT eine Helmholtz-Hochschul-Nachwuchsgruppe leitet und
zusammen mit den Professorinnen Susanne Mertens (Max-Planck-Institut für
Physik und  Technische Universität München) und Diana Parno (Carnegie
Mellon, USA) die Arbeiten des internationalen Analyseteams koordiniert.
Dieses umfasst zahlreiche Postdoktoranten, Doktoranden sowie viele
Master- und Bachelorstudierende.

Mit der offiziellen
KATRIN-Einweihung am 11. Juni geht für das internationale KATRIN-Team
ein langgehegter Traum in Erfüllung. „Nur mit Entschlossenheit, Mut und
einer gehörigen Portion Enthusiasmus lässt sich ein Pionierprojekt wie
KATRIN realisieren“, fasst Prof. Hamish Robertson (University of
Washington, Seattle, USA), der langjährige US-Sprecher von KATRIN, den
langen Weg von den ersten Ideen in 2001 bis heute zusammen. Als Erfinder
der gasförmigen molekularen Tritiumquelle und Koordinator der wichtigen
Aktivitäten der US-Kollegen bei KATRIN kann er auf viele Meilensteine
in der Neutrinoforschung zurückblicken.

„Der Weg war voller Herausforderungen. Jetzt stehen wir am Start,
und freuen uns auf spektakuläre und überraschende KATRIN-Resultate, in
guter Tradition der Neutrinophysik der letzten Jahrzehnte“, schauen
Guido Drexlin und Christian Weinheimer und das gesamte KATRIN-Team
erwartungsvoll nach vorne bis ins nächste Jahrzehnt.